Es ist das mysteriöseste Machtzentrum des Sports. Um dieses Gremium ranken sich mehr Legenden als um das FBI. Seine Sitzungen sind geheimer als jene des sowjetischen Politbüros unter Obmann Josef Stalin. Und es beeinflusst seinen Sport stärker als Marc Lüthi den SC Bern. Dabei ist die Bezeichnung so uncool und holprig, als handle es sich um eine Unterabteilung des Bundesamts für Statistik: Einteilungskampfgericht. Diesem Gremium verdankt das Schwingen die Attraktivität. Aber eben auch den bösen Ruf, es werde heimlich beeinflusst.
Wenn in einem Kampfsport der Sieger aus über 200 Einzelkämpfern am Abend des zweiten Tages feststeht, wenn sich die Spannung während der zwei Tage kontinuierlich aufbaut und sich schliesslich in einem Finale, dem sogenannten Schlussgang, entladen soll, dann muss eben eingeteilt werden. Es ist nicht möglich, dass jeder gegen jeden kämpft. Wer gegen wen kämpft, entscheidet dieses legendäre Einteilungskampfgericht.
Sechs Männer mit Stimmrecht sitzen beim Eidgenössischen Schwingfest in Pratteln in diesem Gremium: die technischen Leiter (Sportchefs) der fünf Teilverbände Bern, Nordostschweiz, Südwestschweiz, Nordwestschweiz und Innerschweiz plus der technische Leiter des eidgenössischen Gesamtverbandes.
Diese Männer sind unerbittliche Rivalen und mit allen Wassern gewaschen. Sie vertreten beim Eidgenössischen mit allen Mitteln das Interesse ihres Teilverbandes. Sie versuchen alles, damit ihre Schwinger möglichst einfache Gegner erhalten.
Diese Einteilung läuft nach zwei einfachen Grundsätzen. Erstens: Es sollen immer die Besten, jene mit den meisten Punkten aus den bisherigen Kämpfen, gegeneinander antreten. Zweitens: So lange wie möglich sollen es aber nicht zwei Schwinger aus dem gleichen Teilverband sein. Um die Paarungen der zweiten Ranglistenhälfte gibt es kaum je eine Diskussion. Gefeilscht wird nur um die für den Ausgang des Fests entscheidenden Kämpfe. Der Präsident schlägt die Paarung vor, die Mitglieder des Einteilungskampfgerichts können Einwände erheben oder andere Paarungen vorschlagen.
Diese Einteilung ist so entscheidend, weil nur selten ein Schwinger so stark, so böse und so überlegen ist, dass er ein Eidgenössisches gewinnt, egal welche Gegner ihm das Einteilungskampfgericht zuweist. Unbesiegbare sind rar. Auch in Pratteln gibt es keinen unbesiegbaren Titanen. Schwinger sind nicht in Gewichtsklassen unterteilt. Je nach Grösse, Gewicht, Kraft und Beweglichkeit bevorzugen sie völlig unterschiedliche Kampfstile.
Es gibt Gegner, die einer aufgrund seiner Kampfweise einfach nicht besiegen kann, andere, die ihm dafür perfekt liegen. Wenn beispielsweise der Vertreter der Berner im Einteilungskampfgericht alles über seine und die gegnerischen Schwinger weiss, dann kann er blitzschnell seinem Favoriten jenen Gegner zuschanzen, gegen den er die grössten Siegeschancen hat.
Nun ist die Frage, welchen Einfluss eine Einteilung ganz konkret haben kann. Bis heute liefert Stans 1989 das klassische, das anschaulichste Beispiel, wie ein Eidgenössisches durch die Schlauheit der Einteilungskampfrichter entschieden worden ist. Im Schlussgang wird der haushohe Favorit Hasler Eugen sensationell vom Berner Käser Adrian besiegt. Für die Berner sitzt der schlaue Metzgermeister Heinz Seiler im Einteilungskampfgericht.
Adrian Käser ist nur den Bernern ein Begriff. Er liegt nach dem ersten Tag lediglich auf dem 65. Rang und er hat noch nie ein wichtiges Fest gewonnen. Er hat nun am Sonntag im fünften und sechsten Gang relativ leichte Gegner, punktet und steht nach sechs Kämpfen plötzlich in der Spitzengruppe. Klar ist, dass der kecke Jungspund jetzt im siebten Durchgang einen ganz starken Gegner bekommen muss.
Es gibt einen ganz unangenehmen Gegner: den ungelenken Zwei-Meter-Riesen Clemens Jehle (2,04 Meter, 140 Kilo) vom nordostschweizerischen Teilverband. Der Judoka, 1984 und 1989 Olympia-Teilnehmer und einmal Europameister, ist schwingtechnisch unbeholfen. Aber er ist so kräftig und standfest, dass er als praktisch unbesiegbar gilt und jedem einen Gestellten (ein Unentschieden) abtrotzen kann. In Stans wird er seinen dritten eidgenössischen Kranz gewinnen. Die Vertreter aus der Südwest-, Nordwest- und Innerschweiz im Einteilungskampfgericht sträuben sich heftig dagegen, ihre Favoriten im zweitletzten Durchgang ausgerechnet gegen diesen garstigen Bösen in den Sägemehlring zu schicken.
Der schlaue Berner Einteilungskampfrichter aber hat nichts dagegen, Adrian Käser gegen Clemens Jehle laufen zu lassen. Heinz Seiler weiss, dass der technisch gewandte Käser den Riesen Jehle leichter fällen kann als einen wendigen, technisch versierten Gegner. Denn der Judokämpfer ist anfällig auf schwingerische Flankenangriffe. Adrian Käser ist ein Spezialist für blitzschnelle Flankenschwünge und fähig, so eine Maximalnote zu erzielen. Und wenn er den Riesen fällt, ist die Maximalnote sicher und der Schlussgang möglich.
Adrian Käser fällt Clemens Jehle wie einen Baum, zieht in den Schlussgang ein und wird als 18-Jähriger der jüngste Schwingerkönig der Geschichte.