Ein Rennen so hoch oben mit einem Zielraum, der höher liegt als der Start der Lauberhorn-Abfahrt, ist eine kühne Herausforderung der Natur, der Dämonen der Berge. Es ist, vom logistischen Aufwand her, die Mondlandung des Skisportes.
Und nun beschert uns Zermatt einen der kuriosesten, wenn nicht gar den kuriosesten Tag der Skigeschichte: Das Wetter ist wunderbar. Aber wegen des Wetters ist die Abfahrt abgesagt und auf den Sonntag verschoben worden.
Wenn der Chronist nichts zu tun hat, so bleibt ihm Zeit, Tourist zu sein. Also reist er im Bunde mit anderen Gästen hinauf aufs kleine Matterhorn und dorthin, wo das Rennen stattfinden sollte. Strahlend ist die Sonne über dem Dorf aufgegangen. Sie hat etwas Zeit gebraucht, um hinter den hohen Bergen hervorzukommen. Es ist 10.00 Uhr und längst ist das Rennen abgesagt.
Ein paar Wolkenfetzen verhüllen noch die Spitzen des Matterhorns. So als ob die Dämonen des Berges der Berge ein wenig die Stirn runzeln und es kaum fassen können, dass das Rennen wieder nicht stattfindet. Ach, die Fahrt hinauf mit den Gondelbahnen in die hochalpine Welt, mit dem Blick aufs Matterhorn und auf die umliegenden Gipfel, ist unbeschreiblich schön. Nicht einmal der Mount Everest ist eindrücklicher (der Chronist hat den höchsten Berg der Welt gesehen). Die Fahrt ermöglicht einen Blick auf die andere Seite des Matterhorns. Von hinten sieht der Berg aller Berge ganz gewöhnlich aus. Von Zermatt aus gesehen ist es das Matterhorn. Von der italienischen Seite her das «Doesn't Matter Horn».
Oben auf dem Kleinen Matterhorn (Glacier Paradise), der höchsten Bergstation Europas, geht der Blick hinüber zum Startgelände. Wären wir jetzt im Schulskilager, dann würden wir später sagen: Heute ist der schönste Tag überhaupt. Schöneres Wetter wäre nicht möglich. Der Wind? Kein Problem. Ja, natürlich, es zieht. Aber mehr nicht. Es ist ja normal, dass es im November auf fast 4000 Metern oben ein wenig zieht. Skifahren ist offenbar kein Problem. Jedenfalls fahren Touristen Ski. Sogar das Knattern eines Helikopters ist zu hören.
Nun, die Skigeneräle haben ihre Gründe für die Absage. Zu viel Schnee habe es über Nacht gegeben. Wobei der Laie sich immer wieder fragt: Wieso kann bei zu viel Schnee eigentlich nicht gefahren werden? Sind denn die Verhältnisse nicht für alle gleich? Aber wir wollen nicht grübeln.
Der Wind kann auch kein Problem sein. Oder doch? Auf der italienischen Seite – wohin der Blick jetzt schweift, sind die Bahnen geschlossen, angeblich wegen starkem Wind. Der Chronist ist kein Meteorologe und hat keine Erklärung. Vielleicht macht der Wind halt an der Landesgrenze. Nein, das ist Unsinn. Es ist eben die Unberechenbarkeit des Wetters in dieser Höhe. Und es geht letztlich um die Sicherheit. Wenn die Helikopter nicht fliegen können – was beispielsweise dann, wenn ein Fahrer verunglückt? Gegen Sicherheitsbedenken gibt es keine Argumente.
Der wirtschaftliche Schaden hält sich in Grenzen. Die umsichtigen Organisatoren haben entsprechende Ausfallversicherungen abgeschlossen. Verletzt ist der Stolz der Männer um OK-Präsident Franz Julen. Die Premiere vor einem Jahr musste wegen zu wenig Schnee ausfallen. Jetzt hat es zu viel davon. Wieder sind die Dämonen der Berge, die auch über das Wetter gebieten, stärker.
Die Chancen, dass das Rennen am Sonntag nachgeholt werden kann, sind gering. Mit grösser Wahrscheinlichkeit bleibt diese Abfahrt der Männer eine «Phantom-Abfahrt». Und wenn die Frauen in einer Woche hier ihr beiden Rennen durchführen können, werden Romantiker sagen: Es sind die Frauen, die die Dämonen des Berges der Berge gezähmt haben.
Eigentlich ist die Erklärung für die kuriose Absage ganz einfach. Wie beim Turmbau zu Babel wollen die Ski-Generäle immer höher hinaus. Ein immer grösseres Spektakel bieten. In einer Sportwelt voller Erregungen wird nur wahrgenommen, wer noch mehr wagt und noch höhere Risiken eingeht.
Aber noch nie in der Weltgeschichte hat es so viele Advokaten gegeben wie im 21. Jahrhundert. Je höher die Medienbeachtung, desto grösser die Lust zu klagen. Deshalb schrecken die wagemutigsten Pistenbauer und Rennveranstalter beim kleinsten Risiko zurück. Deshalb erleben wir in Zermatt die kurioseste, eigentlich absurdeste Absage eines Ski-Weltcuprennens. Die Ski-Veranstalter sind in eine Falle geraten – einerseits wollen sie immer mehr Spektakel, andererseits steigt parallel dazu das Risiko für alle und eben auch das Klage-Risiko.
Schon fast unseriös so eine Berichterstattung.
PS: Die Bergkulisse um Zermatt ist wirklich grossartig