Wir treffen uns wenige Tage nach dem Spiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München, nachdem Bayern-Coach Thomas Tuchel wegen seiner Kritik an Lothar Matthäus und Ihnen für Gesprächsstoff sorgte. Was halten Sie von dessen Auftritt?
Didi Hamann: Er scheint sich ungerecht behandelt gefühlt zu haben. Dass er sich und die Mannschaft in der Situation verteidigt, ist völlig legitim. Wie er das macht, ist dann seine Art und Weise. Man darf auch nicht vergessen, welcher Druck auf ihm lastet, und der ist nach dem tollen Spiel wohl von ihm abgefallen. Da steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen, wie er sich zu verhalten hat.
Dann ist es kein Problem für Sie, wie Tuchel bei Sky aufgetreten ist?
Nein, ich habe ja keinen Einfluss darauf. Er hat nicht gesagt, was ihn gestört hat. Anscheinend hat ein anderer Journalist, der gar nicht zu Sky gehört, etwas geschrieben, das ihm nicht gepasst hat, aber die Diskussion ist müssig. Es hiess, dass es gute Unterhaltung war – und wenn das so war, ist alles erfüllt.
"Today we won 4-0 so now you have to take a 180-degree turn. Have fun!" 😳🔥
— Sky Sports Football (@SkyFootball) November 6, 2023
Thomas Tuchel hits back at ex-Bayern Munich players Lothar Matthaus and Didi Hamann for their analysis of his team 👀 pic.twitter.com/PMDUroTVN1
Hat sich das Verhältnis zwischen den Spielern oder vor allem den Trainern und den Experten Ihrer Meinung nach in letzter Zeit vergiftet?
Nein, eigentlich nicht. Da ist nichts Persönliches, da kann ich auch für Lothar Matthäus sprechen. Ich kannte Thomas Tuchel früher ganz gut, habe in einigen Auswahlmannschaften mit ihm gespielt. Wenn ich ihn jetzt kritisiere, geht es nur um das Spiel. Und Bayern hat in diesem Jahr zwar erfolgreich, aber nicht immer guten Fussball gespielt. Er hätte ja auch mal sagen können, dass er anderer Meinung ist, bevor er mit den Bayern 4:0 in Dortmund gewonnen hat. Aber ich verstehe, wenn er sich da mal zur Wehr setzt.
Also gibt es kein böses Blut zwischen Ihnen und Tuchel?
Nein, um Gottes willen. Wenn ich ihn sehe, schüttle ich seine Hand und rede kurz mit ihm, wenn er will. Wenn er das nicht will, ist das auch okay.
Es war nicht das erste Mal, dass ein Trainer Sie attackierte. Auch Jürgen Klopp kritisierte Sie schon einmal. Wie erklären Sie sich das?
Das weiss ich nicht, weil ich auch keinen Einfluss darauf habe. Ich kann die Sachlage nur so beurteilen, wie ich sie sehe. Wenn sich der eine oder andere Trainer angegriffen fühlt, dann können sie sich verteidigen und das sollen sie auch. Aber mir geht es da nicht um einzelne Personen, sondern um den FC Bayern oder Liverpool. Und wenn sie das anders sehen, dann ist das so.
Sie sind sicher einer der polarisierendsten Experten im deutschsprachigen Raum. Wie schätzen Sie sich denn selbst als Experte ein?
Ich weiss, dass die Leute sagen, dass ich oft, immer oder zu viel kritisiere. Aber ich sage wahrscheinlich zu 80 oder 90 Prozent positive Dinge. Nur interessiert das halt keinen, weil sich Kritik besser verkauft. Aber was die Medien und die Leute mit meinen Aussagen machen, liegt nicht in meinem Einflussbereich.
Steckt hinter manchen Ihrer Aussagen nicht auch etwas Kalkül, da kontroverse Meinungen mehr Aufmerksamkeit erhalten?
Nein. Dass es eine grössere Wirkung hat, wenn man Bayern oder Dortmund kritisiert als beispielsweise Bochum oder Augsburg, ist klar. Aber ich weiss ja nicht, was dann mit meinen Aussagen gemacht wird. Manchmal denke ich, dass es gar nicht so schlimm war, und auf einmal sind die ganzen Gazetten voll. Kalkül steckt da aber nie dahinter. Ich lasse mir auch von niemandem hineinfunken, sondern sage immer meine Meinung, wie ich das im Moment sehe. Und ich würde im Fernsehen nie etwas sagen, das ich den Leuten nicht auch unter vier Augen sagen würde. Das ist mein Credo.
Im letzten Jahr machten Sie sich durch Ihre Kritik an Yann Sommer bei vielen Schweizer Fussballfans unbeliebt. Bekommen Sie solche Kritik mit?
Ich kriege das nicht so mit und wenn ich mal etwas sehe, dann kann ich darüber schmunzeln, solange es bei Beleidigungen bleibt. Es gehört ja auch dazu, dass es Gegenwind im Internet gibt, wenn der Schweizer Volksheld kritisiert wird. Wenn das in einem gewissen Rahmen bleibt, kann ich mit einer Beleidigung ganz gut leben, aber ich kann meine Kritik ja nicht danach richten, wie beliebt der Spieler in seinem Land oder bei seinen Fans ist.
Bleibt es denn bei Beleidigungen oder geht es auch mal darüber hinaus?
Nein, bisher gab es da keine Probleme. Wenn mich einer im Internet beleidigt, heisst das nicht, dass er es auch persönlich machen würde. Wenn ich angesprochen werde, ist das durchwegs positiv.
Wie sehen Sie das Thema um Yann Sommer im Nachhinein? Waren Sie da etwas zu harsch oder haben ihn gar unfair behandelt, wie es beispielsweise Nationaltrainer Murat Yakin empfand?
Ich kann ja nur beurteilen, was ich zu dem jeweiligen Zeitpunkt sehe. Gegen Ende der Saison konnte er sich etwas stabilisieren, aber wenn er so gehalten hätte, wie ich es erwartet hätte, wäre er vielleicht noch in München. Es hat ja einen Grund, weshalb er nicht mehr in München ist. Und Kritik ist ja nichts Schlechtes. Wenn jemand einen Fehler macht und nicht kritisiert wird, impliziert das ja, dass er es nicht besser kann. Und das war bei Sommer nicht der Fall, er ist ein herausragender Torwart. Er hatte halt gegen Paris und in Manchester nur nicht die Ruhe ausgestrahlt, die er hätte ausstrahlen sollen.
Glauben Sie, dass Aussagen von Experten und Medien einen Einfluss auf die Leistungen der Spieler haben können?
Ob die Kritik einen Einfluss hat, weiss ich nicht, und ich kann die ja nicht davon abhängig machen, wie ein Spieler damit umgeht. In München ist die Aufmerksamkeit ungleich grösser als in Gladbach, dennoch ist es eine einmalige Chance zu Bayern zu gehen. Hätte sich Sommer das nicht zugetraut, hätte er nicht wechseln dürfen. Ich dachte auch, dass er das packt und dass er besser hält.
Weshalb gelang es ihm Ihrer Meinung nach nicht?
Es ist viel zusammengekommen, was man zu seiner Verteidigung auch sagen muss. Es gab Unruhen im Verein, einen Trainerwechsel und die Mannschaft war verunsichert. So war es eine sehr schwierige Situation. Aber er wurde ja auch vom Nationaltrainer und vielen Ex-Spielern verteidigt. Das sollte ihm dann auch das Selbstvertrauen gegeben haben, dass es nicht alle so sehen wie ich.
Sie kennen auch die andere Seite, spielten unter anderem für Bayern und Liverpool. Mussten Sie sich viel Kritik anhören lassen?
Ja, damals war das vielleicht sogar noch etwas härter als heute. Natürlich gab es die sozialen Medien noch nicht, aber was die grossen Tageszeitungen geschrieben haben, gerade wenn es in der Nationalmannschaft mal nicht so lief, war ab und zu schon grenzwertig.
Können Sie sich noch an ein Beispiel erinnern?
Als wir vor der EM 2004 mit Deutschland 1:5 in Rumänien verloren haben, hat die Bild uns als Würste abgebildet. Ich weiss nicht, ob das heute so noch gemacht werden könnte oder ob der Aufschrei nicht zu gross wäre. Die Zeitungen sind ja nun schon etwas sensibilisierter, was das angeht. Das ging schon in Richtung persönliche Beleidigung.
Wie gingen Sie damals damit um?
Es war damals halt so. Hat es uns geschadet? Wahrscheinlich nein. Natürlich liest es niemand gern. Und man bekommt es auch mit, obwohl immer viele sagen, dass sie nichts lesen, aber dann erzählt es dir halt irgendwer. Wenn die Kritik sachlich und konstruktiv ist, musst du sie einzuschätzen wissen. Trotz alledem hast du dich wahrscheinlich nie so schlecht gesehen, wie die Zeitungen dich schreiben. Das musst du ausblenden. Das lenkt nur ab, kostet Zeit, Nerven und Energie und davon brauchst du jeden Tropfen, wenn du auf höchstem Niveau spielen willst.
Nach Ihrer Karriere haben Sie sich kurz als Trainer versucht. Weshalb hat das nicht geklappt?
Wenn ich was mache, dann will ich versuchen, der Beste zu sein. Und beim Trainersein habe ich relativ schnell gemerkt, dass ich die Gabe nicht habe, mir Übungen auszudenken und Sachen zu erkennen, um Probleme im Team beheben zu können. Das konnten viele andere sehr viel besser und da war für mich sehr schnell klar, dass die Option Trainer für mich keine war.
Sind Sie denn der beste Experte?
Ich will der Beste sein. Aber ob ich es bin, müssen andere entscheiden.
Seit diesem Sommer arbeiten Sie auch bei Blue Sport und sind unter anderem für die Champions-League-Spiele von YB zuständig. Verfolgen Sie den Schweizer Fussball schon lange?
Ja. Als Spieler bin ich mit Liverpool hier mal gegen Basel ausgeschieden und auch in den letzten Jahren habe ich den Schweizer Fussball natürlich verfolgt. Beispielsweise den grossen Erfolg von André Breitenreiter mit dem FC Zürich oder GC, das seit Jahren immer irgendwo herumtaumelt. Ausserdem denke ich, dass es dem Schweizer Fussball guttun würde, wenn der FC Basel wieder hochkommen würde.
In den europäischen Topligen gibt es immer mehr Schweizer in tragenden Rollen. Wie wichtig ist beispielsweise Manuel Akanji bei Manchester City?
Unheimlich wichtig. Ich war schon immer ein grosser Fan von Akanji, nur hat er in Dortmund den einen oder anderen Fehler zu viel gemacht. In Manchester hat er diesen «Bruder Leichtfuss» abgelegt und spielt da eine herausragende Rolle. Er ist auch ein sehr guter Fussballer, was Pep Guardiola gefällt.
Und Granit Xhaka in Leverkusen?
Er könnte das letzte Puzzleteil sein, da er diese körperliche Präsenz und die Schmutzigkeit mitbringt, die in Leverkusen noch gefehlt hat. Er spielt dort ja auf der Position, die ich bekleidet habe, und da muss man auch mal unangenehm oder schmutzig sein und das kann er. Jemand hat mal gesagt: «Mit Ministranten gewinnst du nichts.» Deshalb braucht es solche Spieler wie Xhaka. Er bringt zudem alles mit, was man von einem Führungsspieler erwartet. Er ist stressresistent, belastungsfähig und bringt Leistung, wenn es darauf ankommt. Deshalb hatte er so einen grossen Wert bei Arsenal, dem Nationalteam und jetzt bei Leverkusen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass er am Ende dieser Saison deutscher Meister ist.
Neben Xhaka gibt es in der Bundesliga zwei weitere grosse Schweizer Figuren. Einer wäre Gregor Kobel. Ist er der beste Goalie der Bundesliga?
Er hat über die letzten zwei Jahre auf alle Fälle zu den Top 2 oder 3 gehört. Auch Hoffenheims Oliver Baumann oder Kevin Trapp von Frankfurt halten sehr gut, aber Kobel war über die letzten zwei Jahre wahrscheinlich der beständigste.
Der andere ist Urs Fischer, der bei Union Berlin in der Krise steckt. Wie schätzen Sie die Situation dort ein?
Es ist verrückt. Es ist unheimlich schwer, keine Sympathien für Urs Fischers offene, herzliche Art und das Ganze, was er da geleistet hat, zu haben. Aber nach so vielen Niederlagen wird es irgendwann gefährlich. Trotzdem haben sie sich zu ihm bekannt. Die Fans sagen auch, dass sie mit diesem Trainer durch dick und dünn gehen ...
Aber?
Die Verantwortlichen haben eine Verantwortung gegenüber dem Verein und den Angestellten. Es wäre natürlich etwas Erfrischendes in dieser Zeit, wenn ein Klub sagt, wir gehen mit dem Trainer runter und hoffentlich wieder hoch. Aber wenn Union absteigt, verlieren wahrscheinlich mehr als 50 Leute ihren Job.
Was glauben Sie, wie es dort weitergeht?
Ich denke, dass die Situation vorerst schwieriger wird, bevor sie sich verbessert. Es ist ein Unterschied, ob sie zwölfmal nicht gewinnen oder zwölfmal verlieren.* Ich habe auch Urs Fischers Reaktion nach dem frühen Gegentor vom Samstag gegen Frankfurt gesehen, da hat er fast schon süffisant gelächelt, als würde er denken: «Jetzt geht das schon wieder los.» Ich glaube zwar nicht, dass er resigniert hat, aber wenn du so lange verlierst, kann ich mir schon vorstellen, dass du irgendwann an den Punkt kommst, an dem du denkst: «Was soll ich den Spielern denn noch erzählen?» Ich bin gespannt, was sie in der Länderspielpause machen, sollten sie am Sonntag in Leverkusen verlieren, was in der aktuellen Verfassung wahrscheinlich ist.
*Das Gespräch fand vor dem 1:1 von Union in Neapel statt.
Zum Abschluss noch etwas Positiveres: Sie sind vor allem für Kritik bekannt. Aber welchen Spielern schauen Sie gerne zu?
Mit Lieblingsspielern ist das immer so eine Sache, weil man objektiv sein sollte. Aber dem Florian Wirtz zuzuschauen, macht schon grossen Spass. Der ist ein Spieler, der andere besser macht, und seine Finesse, seine Übersicht, wie er sich bewegt, das ist Fussball pur.