Wie hoch die Anforderungen doch sind. Die Schnellste soll sie sein. Immer gut gelaunt. Charmant im Umgang mit Reportern, die Teamgefährtinnen nett unterstützend. Hübsch sowieso. Es sind viele Anforderungen, die Teile der Öffentlichkeit an eine junge Frau haben, die nichts anderes im Sinn hat, als einfach nur schneller als alle anderen auf der Welt Ski zu fahren.
Es sind völlig übertriebene Erwartungen, die im Ausdruck «Ski-Schätzli» kulminierten, der jahrelang ein fester Begriff war. Das war genauso despektierlich wie die Tatsache, dass die besten Skirennfahrerinnen dieses Landes lange Zeit als «Meitli» bezeichnet wurden. Als hübsches Beigemüse zu den wahren Stars, den mutigen Abfahrtshelden. Mochte dies frühere Generationen nicht so sehr stören, so störte es Lara Gut gewaltig. Und das sagte sie.
Sie sagte es auch sonst oft geradeheraus, wenn ihr etwas nicht passte. Mal legte sich die Skirennfahrerin mit dem Verband an, dann mit den Medien. Und das in der Bünzli-Schweiz! In der man im Restaurant über das Essen schimpft und dem Kellner beim Abräumen dem Frieden zuliebe sagt, momoll, es habe geschmeckt. Viele hatten Mühe damit, dass da plötzlich eine junge Sportlerin selbstbewusst aufbegehrte.
Die Tessinerin war noch keine 17 Jahre alt, als sie erstmals auf das Podest eines Weltcuprennens fuhr. 2008 war das – und der Moment, in dem die Erwartungen in die Höhe schossen. Im Winter zuvor hatten die Schweizer Frauen an der WM keine Medaille geholt, von den Titelkämpfen drei Jahre zuvor kehrte die Schweiz sogar gänzlich ohne Edelmetall nach Hause zurück. Das war ein Schock für dieses Land, das sich so sehr als Skination versteht.
Nun hatte dieses Land eine neue Hoffnungsträgerin. Ein Jahrhunderttalent, das 2009 bei der ersten WM-Teilnahme gleich zwei Silbermedaillen gewann. Die aufgestellte, sympathische, mehrsprachige Lara Gut war auserkoren, die Schweizer Ski-Geschichte neu zu schreiben. An Vreni Schneider wurde sie gemessen, der erfolgreichsten Schweizer Skirennfahrerin der Geschichte. «The sky was the limit», der Himmel ist die Grenze, so wie bei Tom Petty, der in «Into the Great Wide Open» über einen Rock-Rebellen namens Eddie sang. «Whitout a clue» war der, ahnungslos, und ziemlich sicher wusste auch Lara Gut nicht, was alles auf sie zukommen würde in den folgenden Jahren.
Schnee fiel, Schnee schmolz – in den folgenden Wintern gab es eine Konstante: Theater um Lara Gut. Eine Rebellin auf zwei Brettern, die ihr die Welt bedeuten. Verletzungen verhinderten ihren endgültigen Durchbruch, Streitigkeiten zwischen ihrem Privatteam um Vater Pauli Gut und dem Verband kosteten sie Zuneigung. Was Gut nicht zu kümmern schien. Sie wollte einfach nur schnell Ski fahren.
Dass sie einen Lätsch machte, als sie 2014 in Sotschi ihre bislang einzige Olympiamedaille gewann (Bronze in der Abfahrt) wurde ihr krumm genommen. Nicht die Freude über die Medaille überwog im ersten Moment, sondern die Trauer über den verpassten Olympiasieg, den sich händchenhaltend die zeitgleichen Dominique Gisin und Tina Maze teilten. Das ist das Holz, aus dem wahre, nimmersatte Champions geschnitzt sind.
2015/16 gelang es Lara Gut so gut wie nie zuvor, schnell Ski zu fahren. Sie gewann den Gesamtweltcup. Die grosse Kristallkugel für die beste Fahrerin einer ganzen Saison ist die wertvollste Auszeichnung, die es im Skisport gibt. Weltmeister oder Olympiasieger kannst du auch mit dem nötigen Glück am berühmten «Tag X» werden. Aber wer am Ende eines kräftezehrenden Winters mit Reisen durch halb Europa, nach Nordamerika und manchmal Asien ganz oben steht, der ist unwiderruflich zurecht dort.
Die Öffentlichkeit hatte sich da längst eine Meinung gemacht. Man liebte oder man hasste Lara Gut, kalt liess sie keinen, der sich für den Skisport interessierte. Aber je länger ihre Karriere nun schon dauerte, umso weniger schien das die Tessinerin zu kümmern. Sie wollte eh nur eines: schnell Ski fahren.
Als 2017 die Heim-Weltmeisterschaften in St.Moritz bevorstanden, galt Gut als logische Topfavoritin. Sie hatte im Vorfeld Weltcuprennen in der Abfahrt, im Super-G und im Riesenslalom gewonnen und trat nun an, endlich all die Goldmedaillen einzuheimsen, die ihr zuvor verwehrt blieben.
Die WM im Engadin wurde zu einem Wendepunkt. Nicht nur in ihrer Laufbahn, sondern in ihrem Leben. Nachdem Gut im Super-G die Bronzemedaille holte, lag sie in der Kombination nach der Abfahrt auf Rang 3. Eine weitere Medaille winkte. Doch dann das Drama: Beim Einfahren für den Slalom stürzte sie. Kreuzbandriss, Meniskusverletzung, Heim-WM vorbei, Saison vorbei, alle Chancen auf weitere Kristallkugeln dahin.
Doch Gut erhielt eine andere Chance: die, sich selber besser kennen zu lernen. Ein Jahrzehnt lang hetzte sie wie im Hamsterrad um die Welt. Konditionstraining im Frühling, dann Schneetraining in Argentinien oder Neuseeland im Schweizer Sommer, Formaufbau auf dem Gletscher daheim, dann die Rennen. Stets stand Lara Gut im Fokus, ob gewollt oder nicht, ob wegen ihrer Leistungen oder wegen anderem.
Längst war sie nicht mehr der aufstrebende Teenager. Sie war eine 26-jährige Frau. In erster Linie ein Mensch und erst in zweiter einer, der sehr schnell Skifahren kann. Ihr Bezug zum Leben sei ein anderer geworden, sagte sie rückblickend über die Verletzungspause. Dass ihr Körper die Pausentaste gedrückt hatte, erwies sich als Segen: «Es dauerte, zu realisieren, dass etwas nicht stimmt. Schliesslich habe ich Rennen gewonnen, konnte tun, was ich liebe: Ski fahren. Doch es ging nur darum, besser zu werden. Ich sagte mir immer: Das geht noch, da fehlt noch was. Ich war nie zufrieden. Es fehlte der Ausgleich in meinem Leben. Das Gleichgewicht.»
Sie fand diesen Ausgleich – und heiratete ihn. Seither tritt sie als Lara Gut-Behrami an und betont häufig, wie gut ihr die Beziehung zum früheren Fussballnationalspieler Valon Behrami tue. Wäre sie eine Provokateurin wie es die Sängerin Madonna in ihren besten Jahren war, sie würde ihre Erfolge mit dem Doppeladler-Jubel feiern. Einfach, um die Leser der Boulevardzeitung zur Weissglut zu treiben.
Doch um die schert sich Lara Gut-Behrami nicht. Nebenschauplätze hat sie abgeschaltet, auf den sozialen Medien ist sie nicht mehr präsent. Was sie macht, geht die Öffentlichkeit nichts an. In Fernseh-Interviews wirkt sie reserviert, selbst nach erfolgreichen Rennen. Die Zeiten, als sie den Reportern ein Lächeln schenkte, oder ein knackiges Zitat, sind vorbei.
Die Bünzli-Schweiz verzweifelt häufig an ihrer besten Skirennfahrerin der Gegenwart. Doch die scheint befreiter denn je zu sein, nun da sie sich darauf konzentrieren kann, was sie am liebsten macht: Schnell Ski zu fahren. In Cortina d'Ampezzo ist Lara Gut-Behrami 2021 Doppel-Weltmeisterin geworden, in Super-G und Riesenslalom, dazu gewann sie Bronze in der Abfahrt.
Endlich baumelte nach dem ersten WM-Titel die so lange ersehnte Goldmedaille um ihren Hals – und was sagte sie? «Ich ging mit der Einstellung an den Start, dass ich nicht unbedingt Gold gewinnen muss. Mir war bewusst, dass es keinen riesigen Unterschied macht, ob ich Gold habe oder nicht. Wenn ich gewinne: Voll cool. Wenn nicht, dann ist es auch nicht so, dass die ganze Arbeit nichts wert ist.»
Nach einem schwierigen Winter 2021/22 – Grippe, Corona, Isolation und ein heftiger Sturz stoppten sie – stimmte an den Olympischen Spielen in Peking erneut alles. Sie gewann Bronze in ihrer Lieblingsdisziplin Riesenslalom und das verlieh ihr die Zuversicht für den Super-G.
Ihr Weg, eigenwillig und selbstbestimmt, hat Lara Gut-Behrami zum Erfolg geführt. 34 Weltcuprennen hat sie gewonnen, von den vielen starken Schweizer Skirennfahrerinnen der Vergangenheit gewann nur Vreni Schneider (55) noch öfter. Sie gewann acht WM-Medaillen, eine mehr als Erika Hess und zwei mehr als Schneider. Von der Anzahl her nimmt es keine andere Schweizerin mit Gut-Behrami auf, die Farben sprechen noch für die anderen. Dank den beiden Titeln in den Dolomiten hat die Tessinerin zwei Goldmedaillen, Hess besitzt sechs, Schneider, Maria Walliser und Wendy Holdener je drei.
Die glorreiche Vergangenheit fährt immer mit, wenn in Schweizer Stuben ein Skirennen geschaut wird. Lara Gut-Behrami hält sich lieber in der Gegenwart auf. Und sie macht das, was sie schon immer am liebsten machte: schnell Skifahren.
Sie macht es für sich. Nicht für Verbandsfunktionäre, nicht für Reporter, nicht für die Schweiz. Sie verbiegt sich nicht, sie geht den Weg, den sie für richtig hält. Damit ist sie nicht nur eine im Berufsleben erfolgreiche Person geworden, sondern auch ein zufriedener Mensch, der mit sich im Reinen ist. Und das ist sowieso mehr wert als jede Medaille.
Danke für alles, Lara.