«Warum seid ihr überhaupt wieder hier?» Die Frage eines Zermatter Bergführers an Swiss-Ski-Cheftrainer Beat Tschuor in der Seilbahn aufs Klein Matterhorn ist nicht als Kritik gemeint. Vielmehr als träfer Spruch. «So viele Erfolge, wie ihr letzten Winter gefeiert habt», schiebt der Bergler schmunzelnd nach. Er ist mit einer Seilschaft in Richtung Breithorn unterwegs. Der Viertausender für Touristen.
Man kennt und trifft sich frühmorgens auf der Reise in Richtung Gipfel. Kurz nach sechs Uhr verlassen die Schweizer Speedfahrerinnen an diesem Dienstag ihr Hotel und machen sich auf den Weg zum ersten Skitraining eines Schweizer Weltcup-Teams in Zermatt, seit die heimischen Bergbahnen vor einem Jahr einen Trainingsbann über Marco Odermatt, Lara Gut-Behrami und Co. ausgesprochen haben.
«Denkpause» hat deren charismatischer Präsident Franz Julen die Verstimmung genannt, deren Ursache auch darin bestand, dass trotz eines bestehenden Vertrags die Abfahrten am Matterhorn aus dem Weltcup-Kalender geworfen wurden. Tatsächlich haben die Parteien nachgedacht und sich in diesem Frühjahr wiedergefunden. Und dies mit einer wegweisenden, bis 2034 gültigen Trainingsvereinbarung sowie der Möglichkeit, in diesem Zeitraum auch Weltcuprennen auszurichten, besiegelt.
Beinahe 90 Minuten dauert es, bis Michelle Gisin, Jasmine Flury und Malorie Blanc tatsächlich ihre Ski unter den Füssen haben und auf einer von 16 Trainingspisten auf 3800 Metern Höhe die ersten vorsichtigen Schwünge in den perfekt präparierten Schnee zaubern. Es hat über Nacht sogar ein wenig Neuschnee gegeben. Eher eine Seltenheit im Juli. Sorgen macht vielmehr der rasant schmelzende Untergrund. Was die Ausnahmeposition des höchstgelegenen Gletscherskigebiets der nördlichen Hemisphäre erst recht unterstreicht.
Der Weg zum Training muss erdauert werden. Das sagt auch Cheftrainer Beat Tschuor. Der 57-jährige Bündner ist seit 1996 als Trainer im Skizirkus im Einsatz. Und doch ist die Fahrt aufs Klein Matterhorn um Welten kürzer als die Reise nach Südamerika, wo während des europäischen Sommers die einzig würdige Alternative zum Gletschertraining für die besten Skifahrer zur Verfügung steht. «Zermatt ist für uns eine Bank», sagt Tschuor.
Die Weltcup-Athletinnen werden aufgrund der Rückkehr nach Zermatt nur teilweise nach Argentinien oder Chile reisen. «Vor allem aber verringert sich der Dichtestress enorm. Es nimmt die Hektik aus dem System», führt Tschuor aus. Als Zermatt im vergangenen Sommer ausfiel, drängte die ganze Skiszene nach Saas-Fee ins zweite grosse Gletscherskigebiet der Alpen.
Die Abfahrtspiste auf dem Gletscher mit einer maximalen Fahrlänge von 1,10 Minuten bietet aber nicht nur für die Schweizer Topcracks eine perfekte Vorbereitungskulisse für die Rennen im Winter. In dieser Woche sind auch Teams aus Kanada, Italien sowie eigener Swiss-Ski-Nachwuchs und sogar Equipen aus den Regionalkadern im Training. Beat Tschuor bringt es auf den Punkt: «Die Essenz der Zusammenarbeit mit Zermatt ist, dass Swiss Ski wie keine andere Nation die Möglichkeit hat, den Nachwuchs im Speedbereich zu entwickeln.»
Darauf weist auch Martin Hug, der CEO der Zermatter Bergbahnen, hin. Er spricht von einer «sehr grossen Bedeutung», welche dieser neue Vertrag mit Swiss Ski hat. «Zermatt investiert seit Jahren sehr viel in die Trainingsinfrastruktur und in die Ausbildung des Schweizer Skinachwuchses. Diese partnerschaftliche Lösung für die Zukunft findet im Sinne der Sportförderung statt. Es ist eine klare Win-win-Situation.»
Das neue Agreement beinhaltet eine grundsätzliche Änderung im Rollenmodell. Neu vermietet Swiss Ski die Trainingspisten und die Zermatt Bergbahnen sind im Rahmen eines Leistungsauftrages verantwortlich für den Bau der Trainingsinfrastrukturen, die tägliche Pistenpräparation, die übergeordneten Sicherungsarbeiten sowie die erforderlichen Personen- und Materialtransporte.
«Es geht zum einen darum, das unternehmerische Risiko zu teilen. Zum anderen können wir die Verfügbarkeit der Pisten auf diese Weise möglichst effizient und bedarfsgerecht planen», sagt Martin Hug. So steht die Abfahrtspiste in diesem Sommer bereits ab Anfang August zur Verfügung – zwei Wochen früher als bisher. Und der Trainingsbetrieb dauert erstmals bis zum 19. Oktober.
Walter Reusser, CEO Sport von Swiss Ski, sieht aufgrund des Klimawandels einen weiteren grossen taktischen Vorteil von Zermatt. «Früher waren die Verhältnisse für ein regelmässiges Gletschertraining im Herbst zu garstig. Nun erleben wir aber immer öfter ausgedehnte Schönwetterphasen auch im Spätjahr.» Insgesamt will man die Verfügbarkeit des Sommerskitrainings in Zermatt auf 90 Tage verlängern.
Reusser sagt, die Vertragslösung mit Zermatt verdopple die zur Verfügung stehende Schneefläche im Sommer. «Das bringt uns bis hinunter zu den regionalen Clubs grosse Vorteile und den weltbesten Fahrerinnen und Fahrern vor allem auch Abwechslung.» Auch er betont die Bedeutung für den Nachwuchs. «Zermatt bedeutet für uns vor allem eine Perspektive für den Skisport. Auch dank unserer zwei Stiftungen kann jeder Schweizer Skiclub für 28 Franken pro Talent einen Skitag in Zermatt durchführen.»
Eine ketzerische Frage zum Abschluss: Werden Österreichs Rennfahrer jetzt vom Zermatter Gletscher verbannt, wenn doch Swiss Ski die Pisten in Zermatt direkt vergibt? Walter Reusser sagt, es sei zwar verlockend, in der Planung auf dem weissen Stück Papier primär all die eigenen Bedürfnisse abzudecken. «Aber erstens müssen wir schauen, dass letztlich auch die Rechnung stimmt. Und zweitens wäre es nicht im Interesse des Skisports, wenn wir so vorgehen würden.»
Er sagt, die ausländischen Teams hätten in Zukunft mindestens gleich viele Möglichkeiten in Zermatt wie zuvor – eher noch mehr. So lädt Swiss Ski in Zusammenarbeit mit der Fis vom 9. bis 16. September Fahrerinnen und Fahrer aus kleinen Nationen für eine Trainingswoche nach Zermatt ein. Der Anteil von Swiss Ski an der Pistenbenützung liegt bei 40 Prozent.
Um den Betrieb auf dem Theodulgletscher so optimal wie möglich zu organisieren, hat Swiss Ski mit dem ehemaligen Weltcupfahrer Marcel Sulliger einen Koordinator eingestellt. Die Verantwortung für die Pistenvermietung liegt beim Team von Alpinchef Hans Flatscher. Walter Reusser sagt spasseshalber, Flatscher sei neu auch noch «der grösste Seilbähnler der Schweiz».
Zurück zu den diesjährigen Gletscherpionierinnen aus dem Weltcupteam. Michelle Gisin und Co. kommen eine knappe Stunde zu spät zum Mittagessen. Sie hätten bei der Rückkehr auf den Gletscher schlicht das Timing nicht mehr ganz im Griff gehabt, sagt die routinierte Fahrerin. Und auch der neue Trainer muss seine Uhr erst noch nach den Zermatter Verhältnissen richten. Schliesslich sass Stefan Abplanalp im vergangenen Winter noch für das Schweizer Fernsehen als Experte in der warmen Kommentatorenkabine. Jetzt kehrt er zurück in sein früheres Metier als Speed-Trainer der Schweizer Frauen. Ein weiteres Comeback an diesem Dienstag in Zermatt.