Irgendwann wird das Gewinnen zur Gewohnheit – könnte man meinen. Bei Novak Djokovic ist dies offensichtlich nicht der Fall. Minutenlang wird der Serbe nach dem kaum je zur Debatte stehenden 6:3, 7:6, 7:6 im Final der Australian Open gegen Stefanos Tsitsipas von Weinkrämpfen durchgeschüttelt.
Fast genau drei Stunden lang hatte er auf dem Platz kaum Schwächen gezeigt. Doch als er sich aufmachte, in die Box seiner Angehörigen und Betreuer um Goran Ivanisevic zu klettern, brachen alle Dämme.
Zurück auf dem Court, erklärte Djokovic seinen emotionalen Ausbruch. «In Anbetracht der Umstände war das der grösste Sieg meines Lebens», erklärte er, nachdem er die Siegestrophäe für seinen zehnten Triumph am Australian Open erhalten hatte.
Melbourne sticht in seinem Palmarès und auf der Liste seiner vielen Siege weltweit noch heraus. Umso mehr muss es Djokovic geschmerzt haben, als er vor Jahresfrist ausgerechnet von seinem Lieblingsort so schnöde verwiesen und unter viel Mediengetöse des Landes verwiesen wurde, weil er nicht geimpft war. Und ebenso muss es den wahnsinnig ehrgeizigen Serben, für den es um nichts weniger als die Auszeichnung des GOAT (Grösster aller Zeiten) geht, geärgert haben, dass Rafael Nadal in seiner Absenz zum Sieg kam.
«Was für eine Reise für mich, meine Familie und meine Begleiter», stellte er deshalb fest. Tsitsipas legte sich mal fest: «Für mich bist du der Grösste, der je ein Racket in der Hand hatte.»
Auf jeden Fall ist er, zumindest was die Anzahl Grand-Slam-Titel angeht, wieder auf Augenhöhe mit dem ein Jahr älteren Nadal. Dabei dürfte es jedoch nicht bleiben. Denn Djokovic wehrte den Ansturm der «nächsten Generation» einmal mehr und sehr souverän ab. Hatte Stefanos Tsitsipas, der mit einem Sieg selber die Nummer 1 hätte werden können, in seinem ersten Grand-Slam-Final ebenfalls gegen Djokovic am French Open 2021 noch mit 2:0 Sätzen geführt, stand der elf Jahre jüngere Grieche diesmal von Anfang an auf verlorenem Posten.
Den ersten Satz gewann Djokovic dank eines frühen Breaks zum 3:1, und auch in der Folge zeigte er sich bei eigenem Aufschlag nahezu unantastbar. In Bedrängnis geriet er eigentlich nur einmal, gegen Ende des zweiten Satzes. Beim Stand von 4:5 und 30:40 musste er bei eigenem Service einen Satzball abwehren – und tat dies nach einem längeren Ballwechsel mit einem Vorhand-Winner sehr souverän. Wie so oft, schien es geradezu unmöglich, dass der Serbe unter Druck einen Fehler begehen würde. In beiden Tiebreaks lag er nicht einmal im Rückstand.
Djokovic verschob damit den Generationenwechsel ein weiteres Mal. Er ist im Alter von 35 Jahren und 252 Tagen wieder die Nummer 1, obwohl er in den letzten zwölf Monaten wegen seiner Verweigerung einer Corona-Impfung die fünf wichtigsten Turniere in Nordamerika (US Open, Indian Wells, Miami, Montreal, Cincinnati) verpasste, wo er potenziell 6000 Punkte hätte gewinnen können. Auch für den Wimbledonsieg hätte er im Normalfall 2000 Zähler erhalten, doch wurden diese wegen des Ausschlusses der Russen und Belarussen nicht vergeben.
Das relativiert auch die vermeintliche Wachablösung beim vergangenen US Open durch Carlos Alcaraz ein wenig. Nun muss der Spanier, der seinerseits in Melbourne verletzungsbedingt fehlte, wieder Platz machen für Djokovic. Er wird am Montag seine 374. Woche an der Spitze der Weltrangliste in Angriff nehmen.
Das ist ebenso ein Rekord wie die zehn Titel am Australian Open. In der Profiära ist der «Djoker» nach Ken Rosewall (1971 und 1972) und Roger Federer (2018) nun der drittälteste Australien-Open-Sieger. Im Melbourne Park ist er seit 2018 ungeschlagen. (ram/sda)