Roger Federer sitzt an jenem Donnerstag, 15. September 2022, im Zürcher Nobelhotel Baur au Lac nahe des Bürkliplatzes, als er kurz nach 15.00 Uhr bekannt gibt, dass er nicht mehr auf den Tennisplatz zurückkehrt. In seiner Mitteilung spricht der Baselbieter er von einem «bittersüssen Moment»
Um sich geschart hat Federer an diesem Herbstnachmittag die wichtigsten Menschen: Vater Robert und Mutter Lynette. Und seine Ehefrau Mirka. Der Rücktritt ist wohl einer der persönlichsten Momente in seinem Leben – und zugleich einer der öffentlichsten. «Es war wunderschön, die Neuigkeit, umgeben von Mama, Papa und Mirka, zu veröffentlichen. Wer hätte gedacht, dass die Reise so lange dauert», schreibt Federer dazu.
Wenn Roger Federer in den letzten zwei Jahrzehnten irgendwo auf der Welt einen Pokal in die Höhe stemmte, drückten nicht nur die Fotografen den Auslöser, sondern auch seine Frau Mirka. Ob mit Kamera oder Handy – die 45-Jährige sorgte immer dafür, dass die speziellen Momente in der Karriere des Tennisspielers auch fürs Familienalbum festgehalten werden.
Für die meisten Menschen existiert sie nur von der Hüfte an aufwärts. So viel gab die Box preis, in der Mirka Federer während zweier Jahrzehnte mit ihrem «Rogi» mitfieberte. Ruhte der Ball, ging für sie der Vorhang auf – ob sie das wollte oder nicht. Dann wurde über den pinken Gucci-Pullover mit Tiger auf der Brust für 1500 Franken debattiert, es wurden Brillanten am Ringfinger gezählt, Handtaschen besprochen, oder wie gut die beiden Töchter und die zwei Söhne der Federers eingekleidet worden waren.
Seit den Olympischen Spielen 2000 sind Federer und Mirka ein Paar. Erst war sie seine persönliche Assistentin, bis er mit seinen Erfolgen erst zum Nabel der Tenniswelt, dann zu einer Ikone der Sportgeschichte und zur Millionenmarke wurde. Das war, bevor sie sich auf die Rolle als Ehefrau, Mutter und Ratgeberin zurückzog – und für die Öffentlichkeit verstummte.
2002 beendete Mirka ihre Laufbahn wegen chronischer Fussschmerzen und wurde zur Schlüsselfigur in seiner Karriere. «Roger teilt alles mit mir. Wenn er gewinnt, ist es, als ob ich auch gewinnen würde. Roger gibt mir damit irgendwie mein Tennisleben zurück», sagte Mirka damals.
Bald gewann Federer nur noch: Grand-Slam-Titel, Nummer 1 der Welt, Aufstieg zur Werbeikone. Federer hier, Federer dort, Federer überall.
Zu viel für Mirka, die ihm lange den Rücken freihielt, vieles abschmetterte und dadurch bald im Ruf stand, miesepetrig zu sein. Einmal sagt sie: «Mir ist es Wurst, hier und da für einen Drachen gehalten zu werden. Wer mich kritisiert, sollte einmal mitbekommen, was alles auf uns einprasselt.» Sie stellt sich hintan, sagt: «Es geht jetzt um Rogi! Meine Zeit kommt nach dem Tennis. Er ist jetzt die Nummer 1 der Welt. Das ist man bloss einmal.»
Die beiden fällen den Entschluss, dass sich Mirka aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Federer sagt: «Sie organisiert unser Leben, das bedeutet viel Arbeit. Deswegen beschütze ich sie und spreche für uns beide.» Bis heute.
Nun bricht Mirka Federer ihr Schweigen.
Und zwar in einem Dokumentarfilm, der diesen Sommer erscheinen soll. Wie «Bloomberg» berichtet, hat sich «Amazon» die Rechte an exklusivem Videomaterial aus Federers Privatarchiv gesichert. Demnach wurde Asif Kapadia mit der Aufgabe betraut, die letzten 12 Tage aus der Karriere des Tennisspielers dokumentarisch nachzuzeichnen. Für die Verfilmung von Leben und Wirken der Formel-1-Legende Ayrton Senna und des Fussballidols Diego Maradona hat der Brite mehrere Preise gewonnen.
Entstanden ist das Rohmaterial zwischen der Ankündigung des Rücktritts und Federers letztem Spiel beim Laver Cup 2022 in London im Doppel an der Seite seines langjährigen Rivalen und Freundes Rafael Nadal.
Federer gewährte damals Einblicke in seine Welt, deren Türen er zuvor nicht nur verschlossen, sondern vehement verteidigt hatte. «Ich liess nie jemanden in mein Haus, nicht einmal in mein Hotelzimmer», zitiert ihn «Bloomberg». Er habe bisher kaum persönliche Aufnahmen von seiner Karriere. «Deshalb war mir wichtig, dass ich das mache», sagte Federer.
Er trägt Jeans und Pullover, bietet Kaffee an, als er drei Tage vor seinem letzten Spiel in einem diskret gelegenen, schwach beleuchteten, aber gediegenen Raum in der Londoner O2-Arena einen Blick in sein Innenleben gewährt. Unauffällig aus einer Ecke filmend steht ein Mann, der mit seiner Kamera jede Geste, jede Gefühlsregung aufzeichnet. Er ist dabei, als Federer zum ersten Mal seit Ankündigung seines Rücktritts Rafael Nadal trifft. Als Federer sich in der Kabine auf das Training vorbereitet. Als er sich verpflegt. Beim Physiotherapeuten. Bei der Fahrt ins Hotel. Überall.
Auch wenn er den Zeitpunkt für richtig hält, wühlte Roger Federer dieser Abschied emotional auf. Er lacht und weint – auf dem Platz, aber auch daneben, wenn normalerweise keine Kameras auf ihn gerichtet waren. Tränen, Freude, Trauer, auch Verzweiflung, die intimsten Momente einer Sportikone – das ist der Stoff, aus dem die Träume der Filmemacher sind.
Veredelt wird dieser mit Gesprächen mit Rafael Nadal, Novak Djokovic und Andy Murray. Federer sagt: «Es ist ein sehr persönlicher Film.» Er soll zeigen, wie gut die Kameradschaft unter Tennisspielern sei. «Ja, es gibt Rivalitäten. Aber neben dem Platz auch Freundschaften und Respekt.»
Federer sagte damals, er wisse noch nicht, ob und in welcher Form er diese Aufnahmen verwenden werde. Aber es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie gross das Interesse am Material sein würde. Erscheinen soll der Federer-Dokumentarfilm bereits in diesem Sommer.
Bestes Beispiel dafür, wie gefragt Dokumentarfilme aus dem Sport derzeit sind, ist die zehnteilige Serie «The Last Dance», die Michael Jordans letzte Saison bei den Chicago Bulls dokumentiert. Während 22 Jahren hielt der Basketballer das exklusive Material unter Verschluss, ehe er es 2020 auf «Netflix» zugänglich machte. Mit überwältigendem Erfolg: Fast sieben Millionen Menschen schauten die Episoden im Durchschnitt.
Wenn du ganz leise bist und dir die Fernbedienung ans Ohr hältst, dann kannst du hören, wie die Kasse klingelt.