Viele Wege führen an die Spitze des Tennis, und ganz besonders gilt das für die Schweiz, die in den letzten drei Jahrzehnten mit Martina Hingis, Roger Federer und Stan Wawrinka nicht nur drei Grand-Slam-Sieger hervorgebracht hat, sondern mit Jakob Hlasek, Marc Rosset, Patty Schnyder, Timea Bacsinszky und Belinda Bencic weitere Spielerinnen und Spieler, die Turniere gewannen und in die Weltspitze vorstiessen. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Erfolg, die Wege dorthin sind aber individuell.
Leonie Küng erhält als Kaderspielerin von Swiss Tennis zwar 12'000 Franken im Jahr und wird zudem von der Schweizer Sporthilfe mit 24'000 Franken unterstützt, doch die 19-Jährige sucht ihren Weg an die Spitze ausserhalb der Verbandsstrukturen, und im Schoss der Familie.
Küng kam im Kindergarten während einer Schnupperstunde mit dem Tennis in Kontakt. Eigentlich hatte Vater Martin gedacht, seine Töchter Leonie und Lisa, 17, würden einmal reiten. Denn auf seinem Hof in der Nähe von Beringen betrieb der Tierarzt mit seiner Frau Angelika eine Pferdezucht.
2011 verbrachte die Familie Ferien in Miami und nutzte die Gelegenheit für ein Probetraining in der Akademie von Nick Bollettieri. Die Trainer waren sichtlich angetan und köderten Küng mit der Aussicht auf ein Stipendium. Mitten in der Immobilienkrise kaufte die Familie günstig ein Haus. Mutter Angelika verbrachte mit den Töchtern drei Winterhalbjahre in den USA, während Vater Martin zwischen Florida und der Schweiz pendelte. Doch die Hoffnungen erfüllten sich nicht, in der Akademie ginge es nur um den Profit und das Training sei schlecht, monierte Vater Martin.
Seither ist die Karriere eine Familienangelegenheit. Mutter Angelika organisiert Reisen, Hotels, Anmeldungen bei Turnieren, Vater Martin ist der Trainer. Und als solcher ein Autodidakt, der auf Zahlen und Statistiken vertraut.
Im TV-Sender «MySports» erklärte er einmal seine «eiserne Regel», wonach man ein Handwerk erst nach 10'000 Stunden Übung beherrsche. Dass Küng schon früh nicht mehr bei den Junioren spielte und kaum im nationalen Leistungszentrum in Biel trainiert, hat sie zu einer Art Aussenseiterin gemacht. «Leonies Leistungen und das, was wir als Familie machen, werden nicht anerkannt», sagte Mutter Angelika im letzten Herbst.
Hinter vorgehaltener Hand sage man in der Schweizer Tennisszene, ihre Tochter wäre mit einem anderen Trainer schon viel weiter, als sie es jetzt schon ist. Doch der Erfolg gibt ihnen bisher Recht: 2018 erreichte Küng in Wimbledon als Qualifikantin den Final der Juniorinnen.
Einen Rückschlag musste Küng im Frühjahr 2019 hinnehmen, als sie erst am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankte und zur gleichen Zeit mit einem Borreliose-Infekt zu kämpfen hatte. Erst Ende Jahr zeigte die Formkurve wieder nach oben. Küng wurde Schweizer Meisterin und gewann ein Turnier in der Türkei.
Umso erstaunlicher ist der Erfolg in Hua Hin, wo Küng sich durch die Qualifikation spielte, drei Spielerinnen aus den Top 100 besiegte und in ihrem erst zweiten WTA-Turnier den Final erreichte, den sie allerdings gegen die Polin Magda Linette (WTA 42) 3:6, 2:6 verlor.
Küng verbessert sich in der Weltrangliste um 128 Positionen auf Platz 155 und kann damit künftig die Qualifikation der Grand-Slam-Turniere bestreiten. «Wer mir das vor einer Woche prophezeit hätte, den hätte ich für verrückt erklärt», sagt Küng, deren Traum es ist, einmal die Nummer 1 der Welt zu werden. Es wäre ein weiteres Schweizer Selfmade-Märchen.