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Als ich damals nach 48 Serpentinen, 1844 Höhenmetern und 25 Kilometern Aufstieg auf der Passhöhe des Stilfserjochs stand, dachte ich mir: Mehr geht nicht. Dieser Berg ist der Grand-Slam für jeden Velofahrer, der Endgegner. Doch das war vor zwei Jahren. Und da war ich noch nicht auf dem Wuling-Pass in Taiwan.
Wenn das Stilfserjoch für Roger Federer Richard Gasquet wäre, dann wäre der Wuling-Pass Rafael Nadal auf Sand. Am French Open. Eigentlich unbezwingbar.
Wuling-Pass? Noch nie gehört? Hier die Eckdaten:
Taiwan klingt nicht gerade nach Fahrrad-Mekka. Doch die Insel im Pazifik mausert sich immer mehr zum Geheimtipp vieler Velo-Reisenden. Seit im Jahr 2007 ein Film erschienen ist, in dem der Protagonist per Fahrrad die rund 400 Kilometer lange und 150 Kilometer breite Insel umrundete, ist bei den Bewohnern ein regelrechter «Cycling-Hype» ausgebrochen. Die taiwanesischen Fahrradproduzenten Merida und Giant freut's, ihr Geschäft brummt. Giant darf sich sogar stolz grösster Fahrradhersteller der Welt nennen.
Der hippe Taiwaner geht sonntags nicht mehr Karaoke singen, sondern schwingt sich auf seinen Drahtesel. In der Hauptstadt Taipeh wurden in den vergangenen Jahren im grossen Stile Fahrradwege angelegt; entlang des Tamsui River, der mitten durch die Millionenmetropole fliesst wähnt man sich als «Gümmeler» gar im Velo-Himmel. Sogar Fahrrad-WCs gibt es da, damit der Drahtesel während des Geschäfts nicht unbeaufsichtigt draussen warten muss.
Da soll mal noch einer kommen, dass es in Zürich zu wenig Platz für Fahrradwege habe! Rund 24 Millionen Menschen leben in Taiwan und das auf rund 36'000 Quadratkilometern. 647 Personen zwängen sich durchschnittlich auf einen Quadratkilometer, deren 201 sind es in der Schweiz. Der Albisriederplatz hätte in Taipeh mit Garantie einen Velostreifen bekommen.
Einen Fahrradstreifen hat es eingangs des Highway Nummer 8, der zum Wuling-Pass hoch führt, jedoch nicht. Denn die ersten zwanzig Kilometer führen durch die atemberaubende Taroko-Schlucht. Links und rechts des Flusses ragen karge Felswände hunderte Meter empor. Platz für eine Strasse hat es hier eigentlich nicht. Gebaut haben sie aber trotzdem eine.
Das Resultat: Spektakuläre Brücken, dunkle Tunnels und Felswände, die bedrohlich über der Strasse hängen. Immer wieder wird Taiwans Highway Nummer 8 auch unter den gefährlichsten Strassen der Welt aufgeführt. Bedenkt man, dass die Insel auf dem «pazifischen Feuerring» liegt, ist diese unrühmliche Nominierung vielleicht sogar gerechtfertigt.
Die philippinische Erdplatte schiebt sich hier unter die eurasische Platte, Erdbeben der Stärke 5 auf der Richterskala sind in Taiwan quasi an der Tagesordnung. Kaum an einem anderen Ort der Welt wachsen die Berge so schnell wie in Taiwan. Zwei bis drei Zentimeter sollen die Berggipfel pro Jahr in die Höhe schiessen.
Ein wenig mulmig ist es mir schon, als ich unter den ersten Felsbrocken hindurch düse. Ich rufe mir das Gespräch mit Shelly, meiner taiwanesischen Bekanntschaft, in Erinnerung.
Shelly: «Angst haben musst du erst, wenn es rauf und runter schüttelt. Wenn die Erde nur seitwärts bebt, dann ist alles okay.»
Corsin: «Ja toll. Und was mache ich, wenn es rauf und runter schüttelt?»
Shelly: «Run!»
Corsin: «Run, where?»
Shelly: «Just run!»
Aber ich habe ja einen Velohelm an, soll das Geröll nur kommen. Die Strasse ist angesichts der engen Platzverhältnisse jedoch geradezu «deluxe»: Autos, Touristen-Busse, Scooter und Velos kommen locker aneinander vorbei.
Nach 20 Kilometer erreiche ich Tianxiang. Hier steht der letzte «7-Eleven»-Shop für die nächsten hundert oder mehr Kilometer, für Taiwaner das letzte Zeichen von Zivilisation, bevor es in die absolute Wildnis geht. Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr «7-Eleven»-Shops pro Kopf als in Taiwans Hauptstadt Taipeh.
Für die meisten Touristen, die den Taroko National Park besuchen, bedeutet dieser Stopp auf 450 Meter über Meer Endstation. Für mich geht der Ausflug jedoch erst richtig los.
Nach einer stärkenden Nudel-Suppe zum Lunch nehme ich die verbleibenden 60 Kilometer in den Angriff. Schnell finde ich einen Rhythmus und lasse das Meer immer weiter hinter mir liegen. Durchschnittlich vier Prozent beträgt die Steigung hier noch, die Temperaturen sind angenehm, rund 25 Grad. Dass es auf der Passhöhe rund 20 Grad kälter ist, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Elegant wie ein Dribbling von Arjen Robben schlängelt sich die Strasse nach oben. Häuser hat's nur noch wenige, höchst selten fährt ein Auto an mir vorbei. Rund zwei Drittel Taiwans bestehen aus einem Gebirge, über 160 Gipfel sind höher als 3000 Meter. Doch der Hauptteil der Bevölkerung lebt im Flachland an der Westküste. Das Gebirge und die Ostküste sind nur dünn besiedelt.
Die Zeit verstreicht, die «Oreo»-Kekse in meinen Seitentaschen werden weniger und mir wird klar, dass ich den Gipfel nie vor Einbruch der Dunkelheit erreichen werde.
Angeblich soll es Leute geben, die den Berg in weniger als vier Stunden bezwingen, erzählt mir ein Velo-Freak, der mit seinem Scooter extra anhält, um mit mir zu sprechen. Einmal jährlich gäbe es ein Rennen hoch zur Passhöhe, so mein neuer Freund, der mit Stolz ein T-Shirt vom sogenannten Wuling-Cup trägt. Er selber habe beim letzten Mal aber rund sieben Stunden gebraucht.
Da ich aber weder die Waden noch die Lungen eines taiwanesischen Rad-Champions habe, muss ich mich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Angeblich gibt es da eine Jugendherberge auf 2400 Metern. Schwer vorstellbar, da es hier oben ausser Affen – ja einmal rennen sogar zwei über den Asphalt! – und einer Strasse ins Nirgendwo, wirklich gar nichts mehr hat. Aber was bleibt mir anderes übrig? Umkehren werde ich jetzt sowieso nicht mehr.
Auf gut 1600 Metern über Meer fahre ich auf einmal in dicken Nebel. Auf einer Informationstafel lese ich, dass die nächsten 800 Höhenmeter durch einen «Nebelwald» führen. Diese Gegend ist praktisch immer in Wolken gehüllt, eine mystische Stimmung umgibt mich. Moos säumt den Strassenrand, exotische Vogelstimmen zwitschern aus dem Märchenwald.
Nach 2000 Höhenmetern beginnen meine Beine zu schmerzen; meine Energie schwindet und es wird langsam dunkel. Was mache ich bloss, wenn jetzt keine Jugendherberge auftaucht? Ich will zwar lieber gar nicht daran denken, mache es aber natürlich trotzdem.
Just als meine Stimmung am Tiefpunkt angelangt ist, löst sich die Nebeldecke und ich schwebe auf einmal über der Wolkendecke: Der Nebelwald ist überwunden! Über mir tut sich allmählich ein gigantischer Sternenhimmel auf. Fesselnd, wie man ihn nur fernab jeglicher Zivilisation erleben kann.
Mit Hilfe der Smartphone-Taschenlampe kämpfe ich mich die letzten Kilometer hoch bis zur «Ortschaft» Guanyuan. Zehn Stunden sitze ich jetzt schon im Sattel, meistens ging es bergauf.
Im kleinen Örtchen angekommen, klopfe ich an der Türe der Polizeistation und frage, ob ich hier in der Nähe übernachten kann. Denn Polizisten und Radfahrer sind in Taiwan ganz dicke Freunde. Hat man eine Panne, will sich mal ausruhen oder muss Wasser nachfüllen, bei der Polizei gibt's alles, was man braucht.
Und tatsächlich: Mein Freund und Helfer führt mich direkt vor die Tür der Jugendherberge.
Am nächsten Morgen begrüssen mich ein blauer Himmel und Sonnenschein. Bis zum Gipfel sind es noch 15 Kilometer. Jetzt säumt ein Nadelwald den Strassenrand. Ich könnte mich nun ebenso gut auf dem Ofenpass im Engadin befinden.
Rund zehn Kilometer vor Schluss folgt eine letzte Abzweigung. Dann wird's nochmals brutal hart. Rampen von bis zu 27 Prozent Steigung gilt es jetzt zu überwinden. Und das auf 3000 Meter über Meer, wo die Luft dünner ist als die Models von Heidi Klum. Zum Vergleich: Die maximale Steigung zur legendären Alpe d'Huez beträgt 14,7 Prozent. Und wir alle wissen ja, wie viel Doping, sich Armstrong, Pantani, Cancellara, Froome und Co. reingeschmissen haben, um dieses Hindernis zu überwinden. Ich bleibe bei Oreo und Nudel-Suppe.
Irgendwo im alpinen Grasland, oberhalb der Baumgrenze, befindet sich das Ziel. Die parkierten Reisecars und Offroader glänzen schon von weitem im Sonnenlicht. Tatsächlich ist das Verkehrsaufkommen über Nacht gewaltig gestiegen. Heute ist Samstag.
Taiwaner versuchen hier oben, während des Weekends dem Stadtmief zu entkommen. Ebenso wie der Radsport erfreut sich auch die Wanderszene zunehmender Beliebtheit. Top ausgerüstet kraxeln die Ausflügler zahlreich auf die umliegenden Gipfel und kommen dabei in den Genuss ausgezeichnet ausgeschilderter Wanderwege.
Die Autos und Motorräder, die jetzt an mir vorbeidüsen, stören mich jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Taiwaner scheinen Freude am fremden Velofahrer zu haben. Die Fenster werden runtergekurbelt, die Daumen hochgestreckt. «Jiayou, jiayou!», «Hopp, hopp!», skandieren viele der Vorbeifahrenden und tragen mich so die letzten Kilometer hoch zum Ziel.
Oben angekommen, muss natürlich sofort das obligate Beweisfoto mit der Höhenangabe-Tafel her. Doch da heisst es erstmals anstehen. Denn kein Taiwaner überquert die Passhöhe, ohne ein gründliches Foto-Shooting zu machen. Irgendwann bin dann auch ich dran. Überglücklich. Aber fix und fertig.
In den Genuss der längsten Abfahrt meines Lebens komme ich leider nicht. Denn das Wetter schlägt schlagartig um und es beginnt zu regnen. Bei nur noch fünf Grad. Im Winter hat es hier oben regelmässig Schnee. Da ich definitiv keine Winterkleidung nach Taiwan mitgenommen habe, organisiere ich einen Transporter, der mich zurück zum Meer fährt.
Da sich mein Fahrer als Jan Ullrich des Taroko Nationalparks herausstellt – und damit meine ich nicht die Velo-Skills des Deutschen ... – und mit übersetzter Geschwindigkeit in Vollgas Richtung Tal donnert, gestaltet sich die Abfahrt jedoch mindestens so abenteuerlich wie der Aufstieg.