Sie trotzen dem Wind und dem Regen, der Hitze und der Erschöpfung, sie legen rund 4000 Kilometer zurück und schaffen etwas, das Normalsterblichen unvorstellbar erscheint: Die Ultra-Biker, die sich jährlich am Transcontinental Race in körperlicher Ausdauer und mentalem Durchhaltewillen messen, kämpfen dabei nicht in erster Linie gegen die Uhr, sondern vor allem gegen sich selbst.
Das Transcontinental Race ist ein sogenanntes Ultra-Race – also eines jener Rennen, das aufgrund der langen Distanz oder des hohen Schwierigkeitsgrades nur etwas für Hartgesottene ist. Das Rennen wird seit 2013 ausgetragen. Am 24. Juli begaben sich in diesem Jahr 241 Fahrerinnen und Fahrer auf diese etwas andere Europareise.
Das Transcontinental Race ist nicht das einzige seiner Art. Einer der wichtigsten Events in der Ultra-Cycling-Szene ist das Race Across America (RAAM), bei dem die Teilnehmenden knapp 5000 Kilometer von der West- bis zur Ostküste zurücklegen. 2023 legte die Schweizerin Isa Pulver die Strecke schneller zurück als alle anderen Konkurrentinnen und Konkurrenten.
Anders als beispielsweise die Tour de France besteht das Transcontinental Race aus nur einer Etappe. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen dabei von A bis Z alles selber – von der Route über die Wahl des Velos und der Schlafgelegenheiten bis hin zum Essen. Die einzigen Fixpunkte sind die Checkpoints, die sich entlang der Strecke befinden und die von allen Teilnehmenden passiert werden müssen.
Alle Fahrerinnen und Fahrer sind mit einem GPS-Tracker ausgestattet, sodass ihre Route jederzeit nachverfolgt werden kann, TV-Bilder gibt es nämlich keine. Für Fans – die sogenannten «Dot-Watcher» – ist die aktuelle Position der jeweiligen Fahrerin oder des jeweiligen Fahrers auf einer digitalen Streckenkarte ersichtlich. Einmal unterwegs, ist es den Teilnehmenden selbst überlassen, was sie mit ihrer Umwelt teilen möchten. Einige geben Updates zu ihrer Reise über Social-Media-Kanäle, wie beispielsweise der diesjährige Sieger Christoph Strasser:
Wie bereits erwähnt, gibt es am Transcontinental Race keine vorgegebene Route. Die einzigen Fixpunkte sind der Start und das Ziel sowie die Checkpoints dazwischen.
In der Ausgabe 2023 starteten die Fahrerinnen und Fahrer in Geraardsbergen in Belgien, passierten den Splügenpass sowie drei weitere Checkpoints in Slowenien, Albanien und Griechenland, bis sie schliesslich ebenfalls in Griechenland – genauer in Thessaloniki – die Ziellinie überquerten.
Was zwischen diesen Punkten passiert, entscheiden die Teilnehmenden selbst. Der zweitplatzierte Robin Gemperle fuhr beispielsweise in den ersten 25 Stunden gleich 704 Kilometer von Belgien bis an den Vierwaldstättersee. Pause gönnte er sich dabei nur drei Mal fünf Minuten. «Ich komme nicht an meine Grenzen bei diesen Dingen», erzählte er dem Tages-Anzeiger, angesprochen auf die langen Distanzen.
Das Ziel ist es natürlich, die Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen – so erstaunt es auch nicht, dass die Teilnehmenden auf ihren achtstündigen Schönheitsschlaf verzichten. Wichtig ist jedoch, eine gute Balance zu finden: Wer zu viel schläft, verliert Zeit, wer zu wenig schläft, verliert Energie. Der Aargauer Zeitung erzählte Gemperle im Vorfeld des Rennens, dass er pro Nacht etwa viereinhalb Stunden schlafen möchte. Das sei zwar viel für ein solches Rennen – andere schlafen nur zwei Stunden pro Nacht –, für ihn aber das Richtige.
Die letzten beiden Transcontinental-Rennen konnte der Österreicher Christoph Strasser für sich entscheiden. Der 41-Jährige weiss, wie man erfolgreich an seine Grenzen geht: Ganze sechs Mal gewann er das prestigeträchtige Ultra-Rennen Race Across America. Frauen und Männer werden am Transcontinental Race in der gleichen Tabelle geführt. Im Jahr 2019 kam die Deutsche Fiona Kolbinger mit mehr als 10 Stunden Vorsprung ins Ziel und setzte sich somit auch gegen all ihre männlichen Konkurrenten durch.
Bei einem Ultra Race kommen die Fahrerinnen und Fahrer an ihre Grenzen – und gehen manchmal auch darüber hinaus. 2022 schafften es von 241 Fahrerinnen und Fahrern nur 88 ins endgültige Klassement, 153 Personen überschritten entweder das festgelegte Zeitlimit von zwei Wochen oder schafften es gar nicht erst ins Ziel. Gründe für ein Aufgeben sind zum Beispiel technische Defekte am Rennrad, Verletzungen und natürlich auch Ermüdung.
Robin Gemperle, der Teilnehmer aus der Schweiz, schaffte es dieses Jahr ohne grössere Probleme als zweiter Fahrer ins Ziel. Bei seiner ersten Teilnahme musste der Ultra-Biker jedoch viel Lehrgeld zahlen: wunde Haut am Hinterteil, keine Ersatzhose, insgesamt vier Plattfüsse, ein Hundebiss in Rumänien und komplette Erschöpfung. «Alte, ich bi cooked», soll er damals laut dem «Tages-Anzeiger» einem Freund geschrieben haben. Dank der Erfahrungen aus seiner ersten Teilnahme war Gemperle dieses Jahr besser auf das Rennen vorbereitet und konnte seine Pace aufrechterhalten.
Beim Transcontinental Race im Jahr 2022 rieben sich die «Dot-Watcher» verwundert die Augen, als Robin Gemperle als dritter Fahrer den ersten Checkpoint erreichte, war er doch in der Szene für viele ein Unbekannter. Spätestens seit besagtem Rennen, das er letztendlich als Siebter beendete, ist er in der Ultra-Cycling-Szene aber kein unbeschriebenes Blatt mehr. Selbst Christoph Strasser, einer der zähsten Ultra-Biker, zählt Gemperle zu den «absoluten Grössen».
Obwohl der 27-Jährige länger und schneller radelt als viele seiner Konkurrenten, gilt seine Leidenschaft nicht nur dem Velofahren: Gemperle studiert in Zürich Architektur, ist als DJ unterwegs und organisiert mit dem «Klub Fritto Misto» Gastroevents.
Ganz vom Himmel gefallen ist Gemperles Talent dann aber doch nicht. Bis zu seinem 20. Lebensjahr war er professioneller Cross-Country-Mountainbiker und Teil des Schweizer Nationalteams. Sein Rückzug aus dem professionellen Rennsport tat seiner Leidenschaft für das Radfahren aber keinen Abbruch. Anstatt Runde um Runde auf unwegsamem Terrain zurückzulegen, ging er von da an lieber mit seinem Fixie-Bike auf Langstreckentouren. Gemperle fährt und fährt, zum Beispiel in 24 Stunden nonstop von Aarau nach Paris oder in 50 Stunden nach Barcelona.
Seinen Freunden, die ihn auf diesen Touren begleiteten, entging nicht, dass Gemperle das Ganze leichtzufallen scheint. Einer seiner Reisegefährten war es dann auch, der dem Ausnahmeradler vorschlug, mal an einem Ultra-Cycling-Event teilzunehmen.
Im Januar 2023 war es dann so weit: Gemperle nahm im Rahmen des Atlas Mountain Races in Marokko 1302 Kilometer und 20'200 Höhenmeter auf holprigen Strassen unter die Räder. Nach drei Tagen, 20 Stunden und 15 Minuten erreichte er das Ziel in Essaouria – schneller als alle anderen Teilnehmenden.
Selbst für jemanden wie Gemperle, der offensichtlich gerne an seine Grenzen geht, braucht ein solches Ultrarennen etwas Überwindung: «Es ist ganz normal für mich, dass ich am Renntag überhaupt nicht motiviert bin. Ich habe immer das Gefühl, dass es besser wäre, zu Hause zu chillen und Kaffee zu trinken. Aber mittlerweile weiss ich auch, dass dieses Gefühl verschwindet, sobald ich in den Startbereich komme.»