In der griechischen Mythologie ist Uranos einer der Protogenoi, der ältesten Götter der Elemente und gilt als der Übervater der Götter. Sein Element ist der Himmel. Er kreierte die Titanen und herrschte über sie – bis diese ihn stürzten.
Den Himmel durchziehen an diesem Startwochenende der Tour de France dunkle Wolken. Doch es sind nicht nur Gewitter, die sich über dem Norden Frankreichs zusammenbrauen. Die Radsportwelt wappnet sich für eine Jagd – auf ihren Uranos.
Mit dem Auftritt von Tadej Pogacar ist eine neue Ära des Radsports angebrochen. Eine Ära der Titanen. Rekorde aus den späten 90er-Jahren taumeln. Geschwindigkeiten im Feld sind so hoch wie nie. Und ein Sieg bei der Tour de France, selbst wenn es sich «nur» um eine Etappe handelt, ist so schwer zu erringen, wie es wohl zuletzt zu Zeiten von Eddy Merckx war. Wenn man nicht Tadej Pogacar heisst. Pogacar ist der Uranos dieser Ära des Radsports.
Heuer stehen zum ersten Mal alle Titanen, darunter auch Mathieu Van der Poel und Remco Evenepoel, in bester Verfassung an der Startlinie der Tour. Keine gebrochenen Handgelenke, keine kollabierten Lungenflügel.
Die Tour begann mit einer vermeintlich langweiligen Flachetappe in Lille. Eine für die Sprinter, dachte man. Eine Etappe, auf der die grossen Favoriten keine Zeit einbüssen würden. Es kam anders.
Doch es war nicht das Profil, sondern das Wetter, das den ersten Tag prägte. Und ausgerechnet der kleine, leichte Däne Jonas Vingegaard nutzt den Wind als Waffe. Im Seitenwind zerlegen er und seine Mannschaft das Feld in mehrere Gruppen. Die prominentesten Opfer: Remco Evenepoel und Primoz Roglic sowie der Sprinter Jonathan Milan.
Vingegaards Mannschaft zieht durch, auch mit Pogacar in der Gruppe. Denn es geht um mehr als die 39 Sekunden, die man Evenepoel abknöpfen konnte. Jonas Vingegaard setzt ein Ausrufezeichen: «Ich bin hier Tadej und ich bin stark!»
Die Jagd auf Uranos beginnt also bereits am ersten Tag und Vingegaard will die Schlacht nicht in die hohen Berge verlagern. Er attackiert unverblümt und überall. Ruhige Minuten gibt es in diesen ersten Etappen fast keine. Jede Abzweigung, jede Verengung der Strasse ist ihre eigene Ziellinie. Wer vorne ist, spart Kraft und ist vor Stürzen einigermassen sicher.
Diese Kämpfe im Feld fordern ihre ersten Opfer – auch aus Schweizer Sicht. Stefan Bissegger muss die Tour de France in Folge einer Gehirnerschütterung aufgeben. Auch Filippo Ganna, der italienische Zeitfahrspezialist, scheidet aus denselben Gründen aus. Die Etappe und damit das erste Maillot jaune gewinnt Jasper Philipsen, ein Teamkollege von Mathieu Van der Poel. Noch bleibt der grosse Auftritt des Niederländers aus – doch das wird sich ändern.
Das zweite Teilstück von Lauwin-Planque nach Boulogne-sur-Mer ist die längste Etappe der diesjährigen Tour. Gleich drei kurze, aber steile Anstiege definieren das Finale dieser Etappe. Zu schwer für die Sprinter, zu kurz für die Bergziegen. Genau richtig für Mathieu Van der Poel. Es wäre sein erster Etappensieg an der Tour seit 2021.
Es ist die erste Etappe, auf der Tadej Pogacar als Mitfavorit genannt werden kann. Die Anfahrt auf den ersten Berg im Finale, die Côte du Haut Pichot, wäre leicht mit dem Massensprint der ersten Etappe zu verwechseln gewesen. So fanatisch wurde um die besten Positionen gekämpft. Und mittendrin: Das Schweizer Team Tudor mit Marc Hirschi und Julian Alaphilippe.
Sie schaffen die schwierige Selektion an diesen Hügeln, kommen mit der ersten, knapp 30-köpfigen Gruppe ins Ziel. Alaphilippe wird 5., Hirschi 14. Das gelingt nur, wenn die Beine stark sind.
Pogacar und Vingegaard jagen sich schon an den unscheinbaren Hügeln, als gäbe es kein Morgen. Selbst den letzten Bergpreispunkt geben sie nicht kampflos her. Die Botschaft ist klar: Die Titanen testen ihre Kräfte. Schon jetzt. Aber am Ende bleibt die Gruppe zusammen und Mathieu Van der Poel gewinnt den Bergaufsprint um die zweite Etappe. Pure Dominanz.
Die Tour de France wird in den grossen Pässen entschieden – so heisst es. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die ersten Tage zeigen: Wer seine Position im Feld nicht behauptet, verliert, bevor das Hochgebirge überhaupt in Sichtweite kommt. Evenepoel und Roglic bezahlen mit Sekunden, Stefan Bissegger und Filippo Ganna mit dem Körper.
Eines ist bereits jetzt klar: Vingegaard wird Pogacar attackieren, wann immer er kann. Und wer weiss. Vielleicht kann einer der Titanen heuer den Uranos stürzen.
Früher, während der Skyneos Dominanz mit Froome war die TdF das langweiligste aller grossen Rebben, weil die mit dem berüchtigten "Sky Train" das Rennen kaputt gefahren sind. Da UAE zwar den besten Fahrer aber nicht das beste Team hat, sind die Rennen wieder offener und somit spannender geworden.
Ich freue mich auf mehr Radsport Artikel die nächsten 3 Wochen.