Hinter Tadej Pogacar liegt schon wieder eine Saison der Superlative. Der Weltmeister, der im letzten Jahr alles abgeräumt hatte, gewann im Frühling unter anderem die Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Flèche Wallone, Strade Bianche und er belegte bei seiner Premiere bei Paris-Roubaix Rang 2.
Nach einer mehrwöchigen Pause kehrte der 26-Jährige zurück und gewann die Dauphiné-Rundfahrt, das wichtigste Vorbereitungsrennen auf die Tour de France. Pogacar gewann drei der acht Etappen – aber nicht das Zeitfahren. Das gibt seinen härtesten Rivalen womöglich etwas Zuversicht.
«Ich habe das Glück, dass ich eine nahezu perfekte Vorbereitung hatte. Es ist wirklich alles reibungslos verlaufen», sagt Pogacar, der bei seiner sechsten Tour-Teilnahme den vierten Gesamtsieg anstrebt. Die Stimmung in der Equipe sei fantastisch, was ihm viel Selbstvertrauen gebe. Der populäre Slowene erwartet «einen grossen Kampf bis nach Paris» und «von allen anderen Spitzenfahrern ein sehr hohes Niveau».
Das UAE-Team Emirates besitzt für den Fall der Fälle einen «Joker», der womöglich in die Bresche springen kann, sollte Pogacar, etwa durch Sturz, ausscheiden: João Almeida. Der 26-jährige Portugiese gewann in diesem Jahr die Tour de Suisse, die Tour de Romandie und die Baskenland-Rundfahrt. Mit Marc Soler, Adam Yates, Pavel Sivakov oder Tim Wellens stehen Pogacar weitere sehr starke Helfer zur Seite.
Jonas Vingegaard ist bereit, sich das Maillot Jaune zurückzuerobern. Im vergangenen Jahr war der Däne nach einem schweren Sturz handicapiert und belegte dennoch Schlussrang 2 hinter dem alles dominierenden Pogacar. Nun hofft Vingegaard, wieder zu siegen, so wie es ihm 2022 und 2023 bereits gelang. «Vingo» kündigt an: «Ich bin auf dem höchsten Level, auf dem ich jemals war. Wir werden sehen, ob es reicht.»
Der 28-Jährige kann beim Team Visma-Lease a Bike auf eine womöglich noch stärkere Truppe zurückgreifen. Simon Yates ist der aktuelle Sieger des Giro d'Italia, Wout van Aert eine jederzeit zum Einsatz bereite Allzweckwaffe, Sepp Kuss der wahrscheinlich beste Helfer am Berg und Matteo Jorgenson wäre als Sieger von Paris-Nizza in anderen Teams Captain.
«Mit diesen acht sehr starken Fahrern glauben wir an den Plan, den wir für die Tour de France gemacht haben», sagt Grischa Niermann, der sportliche Leiter der Mannschaft. «Wir konzentrieren uns ganz bewusst auf uns und unseren eigenen Plan. Wir haben eine optimale Vorbereitung hinter uns und denken, dass wir damit das bestmögliche Ergebnis erzielen können.»
Remco Evenepoel stand im vergangenen Jahr als Dritter auf dem Siegerpodest – nun soll es zwei Treppchen höher gehen für den Belgier. Der 25-Jährige war es, der bei der Dauphiné-Rundfahrt das Zeitfahren vor Vingegaard, Jorgensen und Pogacar gewonnen hatte.
In der Vergangenheit konnte Evenepoel an den langen Bergen nicht ganz mit zwei Topfavoriten mithalten. In dieser Saison fehlen dem Fahrer von Soudal Quick-Step viele Trainingseinheiten, weil er nach einem schweren Sturz im Dezember monatelang ausfiel. «Ich werde die Tour wie alle anderen angehen: Tag für Tag und überleben», sagte der Doppel-Olympiasieger von Paris. «Es wird wichtig sein, sich an den ersten zehn Tagen aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten.» Erst dann beginne die Tour so richtig. Weil das Team mit Tim Merlier auch auf die Massensprints setzt, wird Evenepoel in den Bergetappen wohl nicht viel Unterstützung erhalten.
Die vierte Farbe im Tour-Poker heisst Primoz Roglic. Mittlerweile 35 Jahre alt ist der Slowene, der für Red Bull-Bora-Hansgrohe fährt. Den Giro konnte er gewinnen, die Vuelta gleich vier Mal, doch dem Sieg in Frankreich jagte er bislang vergebens hinterher. 2020 zog ihm der entfesselte Pogacar nach der vorletzten Etappe, einem Zeitfahren hinauf zur Planche des Belles Filles, noch das Leadertrikot aus. Bei den letzten drei Teilnahmen musste Roglic stets vorzeitig aus der Tour aussteigen.
Das Team betont zwar klar, dass Roglic der Kapitän ist und zum neunten Mal an einer Grand Tour das Podest erreichen will. Doch vielleicht schlägt 28 Jahre nach dem Triumph von Jan Ullrich wieder einmal die grosse Stunde eines jungen Deutschen. Florian Lipowitz gilt nach Rang 2 bei Paris-Nizza und Rang 3 beim Dauphiné als «next big thing». Die Vuelta beendete Lipowitz im vergangenen Herbst als Siebter.
Fünf Schweizer Fahrer erhielten von ihren Equipen ein Aufgebot für das grösste Rennen des Jahres. Wohl oft zu sehen sein wird Silvan Dillier. Der Aargauer ist bei Flachetappen ein wichtiger Mann, wenn es für die Mannschaft von Mathieu van der Poel darum geht, eine Fluchtgruppe einzuholen. Auf eigene Rechnung darf er wohl nicht fahren.
Als Helfer vorgesehen ist auch Fabian Lienhard, der erstmals an der Tour de France dabei ist. Das trifft auch auf Mauro Schmid zu, den alten und neuen Schweizer Meister. Als Sieger einer Giro-Etappe und mit seiner guten Form könnte der Zürcher ein Kandidat sein, der auf einem hügeligen Teilstück versucht, den Tagessieg zu holen.
Mit diesem Ziel steigt zweifelsohne auch Marc Hirschi in die Frankreich-Rundfahrt. Der Shooting Star der Ausgabe 2020 tritt mit dem Schweizer Tudor-Team an, das vor allem mit Hirschi und dem Franzosen Julian Alaphilippe auf Etappenjagd gehen möchte. Der fünfte Schweizer am Start ist der Thurgauer Stefan Bissegger, der sich für die 5. Etappe sicherlich einiges vorgenommen hat: ein eher flaches Zeitfahren über 33 Kilometer.
Mit der Alpe d'Huez fehlt in diesem Jahr der berühmteste Anstieg der Welt. Dafür wird die 16. Etappe oben auf dem Mont Ventoux entschieden. Es ist eine von fünf Bergankünften, welche stets besondere Spannung versprechen.
Erstmals richtig bergig wird es in der 10. Etappe am französischen Nationalfeiertag. Durchs Zentralmassiv verteilen sich 4400 Höhenmeter auf 163 Kilometer. Danach geht es in die Pyrenäen, wo zunächst eine Bergankunft in Hautacam ansteht. Tags darauf ist jeder Fahrer auf sich gestellt: Zwischen Loudenvielle und Peyragudes wartet ein Bergzeitfahren. Nach zwei Kilometern Anfahrt geht es während acht Kilometern im Schnitt 7,9 Prozent steil hinauf.
Noch einmal einen Tag später geht es noch einmal durchs Hochgebirge zwischen Frankreich und Spanien, unter anderem über den Col du Tourmalet, den Col d'Aspin und den Col de Peyresourde hinauf ins Ziel, das sich in Luchon-Superbagnères befindet. Hammerhart!
Nach dem Ventoux, dem kahlen Riesen der Provence, folgt die Entscheidung in den Alpen. Zwei schwere Bergetappen stehen auf dem Programm, beide mit Bergankunft. Zunächst geht es auf den 2303 m hohen Col de la Loze, danach nach La Plagne.
Ein kleiner Hügel am letzten Tag der 112. Tour de France lieferte im Vorfeld Gesprächsstoff. Inspiriert vom Volksfest an den Olympischen Spielen wurde der Parcours der letzten Etappe, üblicherweise komplett flach, modifiziert. Neu steht drei Mal die Côte de la Butte Montmartre auf dem Programm. Sprinter fürchten um ihre Chance auf den Tagessieg – und die Podestfahrer sorgen sich darum, dass ein Sturz sie kurz vor der Siegerehrung aller Träume berauben könnte.
Der Grand Départ erfolgt an diesem Wochenende ganz im Norden Frankreichs. Es ist davon auszugehen, dass am Samstag um etwa 17.30 Uhr ein Sprinter der erste Träger des Maillot Jaune sein wird.
Auf den ersten 185 von total 3338,8 Kilometern müssen zwar einige Hügel bewältigt werden. Die Teams der endschnellen Leute dürften dennoch dafür sorgen, dass sich in Lille ihr Spezialist in das begehrte Trikot einkleiden lassen darf. Kandidaten dafür sind etwa die Belgier Jasper Philipsen und Tim Merlier, Biniam Girmay aus Eritrea, der Niederländer Dylan Groenewegen oder Jonathan Milan aus Italien.
Freue ich mich auf die nächsten drei Wochen.