«D'une autre planète» («Von einem anderen Planeten») titelte die renommierte französische Sportzeitung «L'Équipe» am Mittwoch. Jonas Vingegaard hatte beim Triumph im Zeitfahren mit einer Leistung für die Geschichtsbücher für die Vorentscheidung in dieser Tour de France gesorgt.
Die Titelwahl der Zeitung war wohl kaum Zufall. Dem irischen Ex-Radprofi und heutigen Journalisten Paul Kimmage fiel auf, dass einst bei Lance Armstrong ein fast identischer Titel gesetzt wurde. Mit «Sur une autre planète» («Auf einem anderen Planeten») fasste die Zeitung einen Solosieg des Amerikaners 1999 in Sestrières zusammen.
As my old friend David Walsh once said: “We reserve the right to applaud.” pic.twitter.com/dJjneLmcvA
— Paul Kimmage (@PaulKimmage) July 19, 2023
Tatsächlich liess Vingegaards Zeitfahr-Vorstellung auf den 22,4 Kilometern zwischen Passy und Combloux die Beobachter ungläubig zurück. Wie war es möglich, dass der Däne seinem Rivalen Tadej Pogacar 1:38 Minuten abnahm und der Dritte, Wout van Aert, schon fast drei Minuten einbüsste?
«Mein Radcomputer hat mir so hohe Werte angezeigt, dass ich dachte, er funktioniert nicht richtig», gab Vingegaard zu. Er sei der Beste der normalen Menschen gewesen, scherzte van Aert, sein Teamkollege.
Dass seine Leistungen angezweifelt werden, kann Vingegaard nachvollziehen. «Um ehrlich zu sein, verstehe ich die Skepsis vollkommen», sagte er am Sonntag. «Wir müssen skeptisch sein nach dem, was in der Vergangenheit passiert ist, sonst würde es wieder passieren.»
Auch Tour-Direktor Christian Prudhomme akzeptiert kritische Fragen zum Leistungsniveau Vingegaards. «Ganz klar, die Fragen hinsichtlich der unterschiedlichen Verdächtigungen sind nicht unberechtigt», sagte er. «Wir leben schon lange damit.»
Vor allem zu Beginn der Frankreich-Rundfahrt wurde in vielen Berichten an ein unschönes Jubiläum erinnert. 25 Jahre ist der Festina-Skandal nun her, als dem Feld das EPO-Doping um die Ohren flog. Der Sieger damals, 1998, war Marco Pantani. «Il pirata» stürmte mit Rekordzeiten die Berge hoch, wurde auch des Dopings überführt und starb 2004 an einer Überdosis Kokain.
7,6 Watt pro Kilogramm Körpergewicht während rund 13 Minuten trat Jonas Vingegaard gemäss «Lanterne Rouge» im Zeitfahren die Côte de Domancy hinauf. Ein Wert, den vor ihm an der Tour de France nur Pantani schaffte (7,62 w/kg während neun Minuten).
Am Mittwoch in der Königsetappe der Tour in den Alpen war Vingegaard ein weiteres Mal eine Stufe über allen anderen. Am letzten Berg, dem steilen Col de la Loze, schaffte er während 33 Minuten 6,21 W/Kg. Der Etappensieger Felix Gall kam ihm mit 5,99 W/Kg am nächsten, der Österreicher bewältigte den Aufstieg eine Minute langsamer. Pogacar, der einbrach und seinem Team «Ich bin durch. Ich bin tot» funkte, konnte nur noch 5,35 W/Kg drücken.
Das alles sind Zahlen, die dafür sorgen, dass Vingegaards Leistungen angesichts der belasteten Geschichte des Radsports zwangsläufig hinterfragt werden. Nach der Königsetappe nahm er ein weiteres Mal dazu Stellung. «Ich verstehe, dass es schwer ist, dem Radsport zu vertrauen», sagte der Däne. «Aber ich denke, dass jeder Fahrer anders ist als die Generation vor zwanzig Jahren. Ich kann aus tiefstem Herzen sagen, dass ich nichts nehme, was ich meiner Tochter nicht geben würde, und ich würde ihr kein Doping geben.»
Dass Jonas Vingegaard über einen aussergewöhnlichen Körper verfügt, wusste man indes schon länger. Diskutiert wird oft über seinen VO2max-Wert, der angeblich einmal mit 97 gemessen wurde.
Die VO2max-Daten sind nicht offiziell, zudem gibt es verschiedene Messmethoden und es kommt immer auf die Testumstände an: Nach einem Höhentraining kommt ein anderer Wert heraus als nach drei Wochen Tour de France. Merijn Zeeman, Sportdirektor beim Team Jumbo-Visma, verweist Vingegaards Wert von 97 daher ins Reich der Fabeln. «Ich habe noch nie einen so hohen Wert bei jemandem gemessen», sagte er gegenüber «Het Laatse Nieuws». Aber selbst wenn Vingegaards Wert ein wenig tiefer sein sollte, wäre er immer noch enorm hoch. Die höchste von Armstrong bekannte Marke ist 85, jene von Pantani 84 und jene von Pogacar 89,4.
Der slowenische Herausforderer Pogacar lag bis vor dem Zeitfahren praktisch gleichauf mit Vingegaard. Doch offenbar geschwächt konnte er nun nicht mehr mithalten. In der Gesamtwertung liegt er 7:35 Minuten zurück auf Rang 2. «Über diesen Vorsprung bin ich erleichtert», sagte Vingegaard. «Aber wir sind noch nicht in Paris, es gibt noch einige schwierige Etappen.»
Damit übertrieb es der Träger des Maillot Jaune aber ein wenig. Heute Donnerstag und morgen Freitag stehen Flachetappen auf dem Programm und die letzte Etappe am Sonntag wird zur Triumphfahrt. Eine tatsächliche Herausforderung bildet für Jonas Vingegaard nur noch das samstägliche Teilstück, ein Auf und Ab in den Vogesen. Wenn er nicht stürzt, ist ihm der zweite Gesamtsieg nach 2022 nicht mehr zu nehmen.
Ich will damit nicht sagen, dass ich den Herren 100% vertraue, aber aus diesem Direktvergleich einen Verdacht abzuleiten, finde ich schwierig und etwas zu kurz gegriffen.