Die einzigen 22,4 Kilometer Zeitfahren der ganzen Tour de France stehen auf dem Programm. Nachdem Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar zuletzt in den Bergen gleich stark waren, könnte der Kampf gegen die Uhr die Frankreich-Rundfahrt entscheiden.
Der flüchtige Blick aufs Profil täuscht: Das Zeitfahren ist eine Angelegenheit für Bergfahrer. Denn das Ziel befindet sich nach einer welligen Anfahrt nach der steilen Côte de Domancy, zweieinhalb Kilometer lang und im Schnitt 9,4 Prozent steil.
Pogacar ist wahrscheinlich der etwas bessere Zeitfahrer. In neun direkten Duellen mit Vingegaard war er laut dem Portal «Pro Cycling Stats» sechs Mal schneller als der Däne, der drei Mal die Oberhand behielt.
«Ich kenne das Zeitfahren, mir gefällt die Strecke, sie passt gut zu mir», kündigte Pogacar, der dem Gegner das Maillot Jaune ausziehen will, gegenüber der Zeitung «L'Equipe» an. Allerdings gibt sich auch Vingegaard optimistisch: «Der Parcours ist sehr kurz, aber ich mag solches kurzes Zeitfahren. Es ist oft schwierig, seinen Rhythmus zu finden, und ich mag es, wenn es viele Rhythmuswechsel gibt.»
Zehn Sekunden liegt der Slowene Pogacar momentan in der Gesamtwertung zurück. Um bei einem allfälligen Gleichstand einen Leader haben zu können, werden beim «Contre-la-montre» die Hundertstelsekunden gestoppt.
Die letzte Alpenetappe wartet mit einem harten Profil auf: Vier Anstiege müssen bewältigt werden. Der Col de la Loze, der letzte Berg des Tages, ist 2304 Meter hoch und damit als höchster Anstieg der Rundfahrt das «Dach der Tour». Vor allem die letzten fünf Kilometer sind enorm steil. Pogacar sprach ehrfürchtig von «einem der härtesten Anstiege der Welt».
Während sich vorne die Anwärter auf den Sieg – und jene auf den dritten Platz auf dem Podest – bekämpfen, steht auch für manchen Sprinter einiges auf dem Spiel. Wer zu langsam ist und das Zeitlimit überschreitet, scheidet aus der Tour aus.
Die schnellen Männer stehen am Donnerstag und Freitag im Fokus. Beide Flachetappen sind prädestiniert für einen Massensprint – auch wenn Ausreisser und Fahrer von Teams, die bislang enttäuschten, alles daran setzen werden, den Sprintern ein Schnippchen zu schlagen. Für Vingegaard und Pogacar geht es darum, noch einmal jedes Körnchen Energie zu sparen für die Entscheidung.
Gar nicht weit von der Schweizer Grenze entfernt findet in den Vogesen der finale Showdown statt. Mit 133,5 Kilometern ist die Etappe kurz, aber sie hat kaum einen flachen Meter und ist ein stetes Auf und Ab mit sechs Bergwertungen. Der Zweitplatzierte der Gesamtwertung dürfte nichts unversucht lassen, um den Führenden noch abzufangen.
Um ungefähr 17 Uhr dürfte der Tour-Sieger 2023 feststehen. Denn am Sonntag auf der letzten Etappe wird der Leader traditionsgemäss nicht mehr angegriffen.
Und was, wenn die Differenz zwischen dem Ersten und dem Zweiten im einstelligen Sekundenbereich liegt? Dann könnte das ungeschriebene Gesetz, wonach ein Führender auf der Schlussetappe nicht attackiert wird, für einmal ausser Kraft gesetzt werden. Zwar endet das Teilstück mit dem Ziel auf den Champs Élysées in Paris fast immer mit einem Massensprint. Aber vielleicht gibt es dann trotzdem einen allerletzten Angriff – zumal es im Ziel auch noch Bonifikationssekunden für die ersten drei gibt.
Sicher ist: Sollte es zu diesem Szenario kommen, wäre dies noch epischer als die legendäre letzte Etappe 1989. Die war damals ein Zeitfahren und der Amerikaner Greg LeMond schaffte es (auch dank technologischer Überlegenheit), aus einem Rückstand auf Laurent Fignon von 50 Sekunden einen Vorsprung von acht Sekunden auf den Franzosen zu machen. Bis heute ist das die knappste Entscheidung in der Geschichte der Tour France.