«Es ist nicht immer einfach. Sie erwarten, dass man immer gewinnt, aber man kann nicht jedes Rennen gewinnen.» Remco Evenepoel hat längst bemerkt, dass ein Radprofi in Belgien unter Dauerbeobachtung steht. Erst recht, wenn man ein so erfolgreicher Radprofi ist wie der Weltmeister im heissbegehrten Regenbogentrikot.
Im Interview mit der niederländischen Zeitung «NRC Handelsblad» sprach Evenepoel vor dem Giro unter anderem über den Druck, in der Heimat als legitimer Nachfolger des grossen Eddy Merckx angesehen zu werden. «Das ist ein Teil des Spiels», ist er sich bewusst. «Wenn man als belgischer Radsportler an die Spitze kommen will, dann weiss man, dass es viele Nebengeräusche gibt. Man muss im Kopf stark sein, um damit umgehen zu können.»
Evenepoel besitzt diese Fähigkeit. Er war ein Wunderkind, das sich anschickte, die Radsportwelt zu erobern. Und er zeigte in seinen ersten Profi-Jahren, weshalb er mit Vorschusslorbeeren überhäuft worden war.
«Er wird vielleicht noch besser als ich», sagte Merckx, da war Evenepoel gerade einmal 19 Jahre alt. «Remco hat alle Qualität, um es zu schaffen», so der «Kannibale». Der Gelobte wollte davon nichts wissen: «Ich bin nicht der neue Merckx, ich bin der neue Evenepoel.»
Sein Stern war im Herbst 2018 aufgegangen. Er wurde zuerst Europameister auf der Strasse und im Zeitfahren und holte sich anschliessend auch an der WM überlegen beide Goldmedaillen. Das Topteam Deceuninck-Quick-Step engagierte ihn und zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag bestritt Evenepoel schon sein erstes Profirennen. In einer Sportart, in der bis dahin die meisten Fahrer erst mit 22 oder 23 Jahren – oder noch später – zu den Profis aufstiegen, war dies äusserst bemerkenswert.
Und es war nicht so, dass Evenepoel eine lange Eingewöhnungszeit bei den Erwachsenen benötigt hätte. Seine erste Rundfahrt, die Vuelta a San Juan in Argentinien, beendete er als Neunter der Gesamtwertung und bester Jungprofi. Etwas später wurde er Vierter der Türkei-Rundfahrt und nach einem halben Jahr bei den Profis gewann er die Belgien-Rundfahrt. Diesem Erfolg liess er seinen grössten der Premierensaison folgen: Solo gewann er die Clasica San Sebastian.
Für den Top-Zeitfahrer und starken Bergfahrer schien es keine Limiten zu geben. Im Jahr darauf knüpfte er nahtlos daran an: Evenepoel gewann alle vier Rundfahrten, zu denen er antrat: San Juan, Algarve, Burgos, Polen. Doch dann folgte ein jäher Absturz des Himmelsstürmers – und zwar wortwörtlich. Bei der Lombardei-Rundfahrt stockte den Zuschauern der Atem, als Evenepoel eine Kurve verpasste und über ein Brückengeländer meterweit in die Tiefe stürzte.
Er erlitt unter anderem einen Pneumothorax, einen Becken- und einen Schambeinbruch. Und er entwickelte eine Angst vor Abfahrten, die er mit der Unterstützung eines Sportpsychologen loswerden konnte. «Als ich in der Reha war, besuchte er mich zwei bis drei Mal in der Woche», erinnert er sich. «Er brachte mir Techniken und Tricks bei, die mir helfen, ruhiger zu bleiben.»
Erst im Mai 2021, neun Monate nach dem Abflug über die Brücke, konnte er sein Comeback geben. Für die Rückkehr wählten er und sein Team gleich den Giro d'Italia aus und da war er lange Zweiter, ehe er nach einem Einbruch in den Dolomiten und einem Sturz aufgeben musste. Allfällige Zweifel wischte er jedoch rasch weg: Erneut gewann er die Belgien-Rundfahrt, später auch die Dänemark-Rundfahrt.
Das waren Vorboten auf die bislang erfolgreichste Saison der noch jungen Karriere. Im Frühling 2022 gewann Evenepoel mit Lüttich-Bastogne-Lüttich sein erstes Monument, im Herbst gewann er mit der Vuelta in Spanien seine erste dreiwöchige Rundfahrt und anschliessend wurde er erstmals bei den Erwachsenen Weltmeister, mit über zwei Minuten Vorsprung.
All diese Resultate sorgten dafür, dass er zu einem anderen Rennfahrer geworden ist. «Ich glaube, nach der letzten Saison bin ich viel selbstbewusster geworden», sagt Evenepoel. «Es ist, als ob eine Art Ruhe über mich gekommen ist, und dazu darf ich das Regenbogentrikot tragen. Das sorgt dafür, dass ich mit mehr Freude fahre.»
Dass er dieses weisse Trikot mit den farbigen Streifen mit in der Szene verpönten weissen Hosen kombiniert, sorgte im Übrigen da und dort für Aufsehen. In Belgien ist auch dies eine Nachricht, über erfolgreiche Radprofis wird berichtet wie in Italien über Fussballstars. Ein solcher hätte er vielleicht auch werden können: Evenepoel spielte in der Jugend bei RSC Anderlecht und PSV Eindhoven und war Nachwuchs-Nationalspieler, ehe sich der Sohn eines früheren Radprofis fürs Velo entschied.
In der radsportverrückten Heimat überhäuften sie ihn nach der vergangenen Saison mit Preisen. Evenepoel wurde Belgiens Sportler des Jahres, und er erhielt unter anderem das Velo d'Or, die Flandrien-Trofee, wurde zum Flämischen Riesen und zum Flämischen Sportjuwel ausgezeichnet. Dafür, dass er sich auch Ehemann nennen darf, sorgte er selber, indem er nach der Saison, am fünften Jahrestag ihrer Beziehung, seine Partnerin Oumi heiratete.
Two hearts that beat as one 🤍
— Remco Evenepoel (@EvenepoelRemco) October 9, 2022
07.10.17 we became girlfriend & boyfriend
07.10.22 we said ‘I DO’ to become wife & husband
Thank you everyone for the wishes, we are very grateful we could celebrate this beautiful day in an intimate and romantic setting.🙏🏻 pic.twitter.com/faKMaQWpFz
Vom berühmt-berüchtigten «Fluch des Regenbogentrikots» scheint Remco Evenepoel nichts zu spüren. Er gewinnt auch als Weltmeister: zuerst die UAE-Tour, zuletzt erneut und in souveräner Manier Lüttich-Bastogne-Lüttich. Gleich danach reiste er für einen letzten Trainingsblock vor dem Giro d'Italia nach Spanien, wo er in einem Zimmer übernachtete, in dem er Höhenluft simulieren konnte.
Einige Wochen zuvor war er in Spanien ein erstes Mal dem Fahrer begegnet, der in Italien als sein ärgster Rivale gilt: Primoz Roglic. Die beiden waren auf Teneriffa im selben Hotel untergebracht, als sie sich am Vulkan Teide vorbereiteten. Ein, zwei Mal plauderten die Kontrahenten im Speisesaal miteinander. «Nichts Besonderes, nur nette Gespräche zwischen zwei Radprofis», meinte Evenepoel dazu.
Die erste Runde des Duells mit dem 33-jährigen Slowenen verlor Evenepoel knapp: Die Katalonien-Rundfahrt wurde mit sechs Sekunden Vorsprung zur Beute Roglics. Die beiden drückten dem Rennen von A bis Z ihren Stempel auf, Roglic gewann drei Etappen, Evenepoel zwei. Der Slowene aus dem Team Jumbo-Visma hatte zuvor schon Tirreno-Adriatico für sich entschieden.
Für Roglic gab es vor dem Giro-Start einen Dämpfer. Zwei Teamkollegen, Zeitfahr-Weltmeister Tobias Foss und Bergspezialist Robert Gesink, fallen wegen Corona aus. Roglic, der die Vuelta drei Mal gewann, an der Tour de France schon Zweiter und am Giro Dritter wurde, möchte nicht nur über ein Duell mit Evenepoel sprechen. «Wenn wir nur auf uns schauen, kann jemand anderes die Gelegenheit nutzen und profitieren.» Er werde sein Bestes geben und dann werde man sehen, was dabei herausschaue.
Die Italien-Rundfahrt beginnt mit einem Zeitfahren, bei dem auch der Thurgauer Stefan Küng zu den Anwärtern auf den Sieg und die erste Maglia Rosa gehört. In Belgien gibt es hingegen keine Frage, wer der Mann ist, den es zu schlagen gilt. Der Glaube an Remco Evenepoel ist so gross, dass Experten des flämischen Senders Sporza darüber diskutierten, ob es nicht besser sei, das Zeitfahren absichtlich nicht zu gewinnen. Der Leader einer Rundfahrt hat mit seinem Team die Aufgabe, das Rennen zu kontrollieren. Die Überlegung: Evenepoels Mannschaft könnte Kraft sparen, wenn es diesen Job einem anderen Team überlässt.
Da ist er wieder, dieser grosse Druck, der auf die schmalen Schultern des 1,71 Meter kleinen und 61 Kilogramm leichten Remco Evenepoel drückt. Der Giro d'Italia soll nur eine Zwischenstation sein. Denn die grosse Sehnsucht im Radsportland Belgien ist ein belgischer Tour-de-France-Sieger, seit 1976 (Lucien Van Impe) wartet das Königreich darauf. Vielleicht ist dieser grosse Wirbel um seine Person neben dem schönen Wetter ein zweiter Grund, weshalb Remco Evenepoel seinen Wohnsitz nach Spanien verlegt hat.
Für ihn selber wird die Tour de France frühestens im nächsten Jahr ein Thema sein. Zunächst gilt der volle Fokus auf den Giro und dessen Herausforderungen. «Die Bedingungen können sich von einem auf den anderen Tag ändern, von Sonne und 30 Grad auf Schnee und eisige Temperaturen», blickt Evenepoel voraus. Der Giro sei für ihn «vielleicht das schönste Rennen der Saison, aber es kann auch das grausamste sein».
Rund 250 Kilometer beträgt die direkte Verbindung zwischen dem Giro-Startort Fossacesia und dem Ziel beim Kolosseum in Rom. Doch da es sich nicht um ein Eintagesrennen handelt, sondern um eine Grand Tour, summieren sich auf 21 Etappen 3489 Kilometer. In der zweiten Woche besucht der Giro d'Italia die Schweiz, geplant ist die Fahrt über den Grossen St.Bernhard ins Etappenziel Crans-Montana. Tags darauf startet die nächste Etappe in Siders, über den Simplonpass geht es zurück nach Italien.
Die Entscheidung fällt in der letzten Woche in den Dolomiten. Die Königsetappe führt hinauf zu den berühmten Drei Zinnen, wo 1981 Beat Breu siegte. Tags darauf folgt ein hammerhartes Zeitfahren: Die ersten fünf des 7,3 Kilometer langen Schlussanstiegs zum Monte Lussari sind im Schnitt über 15 % steil.