Radsportfans haben sich noch kaum vom fantastischen WM-Rennen am vergangenen Sonntag erholt, da steht am Sonntag gleich das nächste Highlight bevor. Paris–Roubaix ist ja ohnehin ein spektakuläres Rennen, vermutlich das grossartigste Eintagesrennen der Profis. «Ein wildes Rennen, ein Wettkampf für Tiere, der aber von Menschen bestritten wird», beschrieb Jacques Goddet, ein halbes Jahrhundert lang Direktor der Tour de France, den Klassiker einst.
Und in diesem Jahr kommt zu den holprigen Pflastersteinen im Norden Frankreichs unweit der Grenze zu Belgien vermutlich noch schlechtes Wetter hinzu. Wie bitte? Schlechtes Wetter bei Paris–Roubaix?! OMG!
Die Fahrer dürften angesichts der Wetteraussichten anderer Meinung als die meisten Zuschauer sein. Für sie droht die 257 Kilometer lange Tortur von Compiègne auf die Radrennbahn in Roubaix dadurch noch herausfordernder zu werden.
Auf dem Weg liegt auf rund 55 Kilometern Pavé, aufgeteilt in 30 Abschnitte, sauber klassifiziert mit einem bis fünf Sternen. Wobei es sich genau anders verhält als beim Ferienhotel: Fünf Sterne bedeuten keinen Luxus, sondern maximalen Horror.
Wald von Arenberg (2,3 Kilometer lang), Mons-en-Pévèle (3 km) und Carrefour de l'Arbre (2,1 km) – nirgends ist das Kopfsteinpflaster in so schlechtem Zustand wie an diesen drei Schlüsselstellen.
Knapp hundert Kilometer sind es von Arenberg bis ins Ziel noch, weshalb Eddy Merckx sagt: «Gewinnen kannst du hier nicht. Verlieren schon.» Der «Kannibale» triumphierte insgesamt drei Mal.
Was dann folgt, ist für Jean-François Pescheux der schwierigste Abschnitt: Mons-en-Pévèle. Der französische Ex-Profi amtete jahrelang als Streckenverantwortlicher von Paris–Roubaix und sagt über jenes Teilstück: «Dort ist es immer windig und niemals flach. An einer Stelle liegen die Steine schief, da müssen die Fahrer höllisch aufpassen.»
Kommen die verbliebenen Siegesanwärter schliesslich in den Carrefour de l'Arbre, stecken ihnen schon über 200 Kilometer in den durchgeschüttelten Knochen. Im letzten schwierigen Pavé-Abschnitt kann die Entscheidung fallen.
Die letzte ganz grosse Schlammschlacht liegt schon bald zwei Jahrzehnte zurück. Seither wurden die Fahrer zwar auch dreckig – aber eher vom Staub als vom Morast.
Der Schlamm stört am Körper wohl weniger, als wenn er sich auf der Kette und in den Ritzeln festsetzt. Oder auf der Brille, wobei der Niederländer Jan Janssen dazu seine eigene Taktik hatte. Der Weltmeister, Tour-de-France-Sieger und Sieger von Paris–Roubaix 1967 nahm zwar extra Taschentücher mit, um die Brille unterwegs zu reinigen – machte das dann aber doch eher selten. «Was ich nicht sehe, kann mir auch keine Angst einjagen», lautete seine einleuchtende Erklärung.
Anders als üblich präsentiert sich auch die Vegetation. Im Gegensatz zum angestammten Termin im April fahren die Profis nun durch viele Maisfelder, was immerhin den Wind etwas entschärfen dürfte.
Das bislang letzte völlig verregnete Paris–Roubaix wurde 2002 zur Beute von Johan Museeuw. Ein würdiger Sieger bei widrigsten Bedingungen, schliesslich gewann der «Löwe aus Flandern» das Rennen drei Mal, wurde Weltmeister und galt zu seiner Zeit als bester Fahrer der Welt in Eintagesrennen.
Museeuw hatte mit dem Rennen eine ganz besondere Beziehung. 1998 drohte dem «Flahute» nach einem Sturz im Wald von Arenberg die Amputation eines Beines. Zwei Jahre später feierte er den zweiten Sieg, indem er auf das lädierte linke Bein zeigte. Triumph und Tragödie liegen im Sport oft nah beisammen und bei einem Rennen wir Paris–Roubaix vielleicht noch näher als anderswo.
Legendär war auch sein erster Sieg 1996. Mehr als 80 Kilometer vor dem Ziel attackierte Museeuw mit seinen Mapei-Teamkollegen Gianluca Bortolami und Andrea Tafi. Das Trio fuhr vorne weg und feierte einen Dreifach-Sieg, wobei die Reihenfolge vom Teamchef nach Rücksprache mit dem Sponsor bestimmt wurde. Museeuw durfte vor den Italienern Bortolami und Tafi gewinnen – was in Italien schlecht ankam, schliesslich war Mapei eine italienische Mannschaft.
Wie Museeuw gewann auch Fabian Cancellara drei Pflastersteine, die es für den Sieg bei Paris–Roubaix gibt. «Spartacus», den die Belgier als einen der ihren adoptierten, triumphierte 2006, 2010 und 2013.
Bei seinem zweiten Sieg war er so überlegen (er gewann mit zwei Minuten Vorsprung), dass danach Gerüchte über einen Motor in seinem Velo die Runde machten. «Der einzige Motor, den ich verwende, ist mein Körper», war Cancellaras Antwort.
Die Duelle mit dem Belgier Tom Boonen fesselten die Radsport-Welt in jenen Jahren. Beide gewannen die Flandern-Rundfahrt drei Mal, «Tommeke» Paris–Roubaix sogar vier Mal. Dafür schaffte Cancellara einen Sieg bei Mailand–Sanremo. In Roubaix hatte in all den Jahren vorher nur ein Schweizer gewonnen: Heiri Suter, dem 1923 als erstem Fahrer überhaupt das Double aus Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix gelang.
Wer weiss, ob Stefan Küng endlich zum ganz grossen Schlag ausholen kann. Der Thurgauer, mehrfacher Etappensieger in Rundfahrten und einer der weltbesten Zeitfahrer, träumt schon lange von einem Coup bei einem der Klassiker. Das schlechte Wetter kommt ihm, anders als vielen Gegnern, entgegen. Küng mag es, wenn es regnet und kalt ist. Und dass er bei solchen Bedingungen zu Topleistungen fähig ist, bewies er mit dem Gewinn von WM-Bronze 2019 im Dauerregen von Harrogate.
Aus Schweizer Sicht ist Küng der grösste Trumpf, er ist zumindest zu den Aussenseitern mit Chancen zu zählen. Silvan Dillier, 2018 Sensationszweiter hinter Peter Sagan, darf höchstens dann auf eigene Rechnung fahren, wenn sein Captain Mathieu van der Poel Schwächen zeigen sollte. Der Niederländer ist einer der grossen Favoriten. Als Topanwärter gilt aber wohl sein ewiger Rivale Wout van Aert. Auch der Belgier ist mehrfacher Radquer-Weltmeister – verfügt also über die technischen Fähigkeiten für das Pflaster. Schlamm und Dreck sind für die beiden ebenfalls nichts Neues.
Gehandelt werden auch Sagan und sein deutscher Teamkollege Nils Politt, der bislang letzte Sieger Philippe Gilbert und natürlich die Fahrer von Deceuninck-Quickstep, die den Klassikern häufig den Stempel aufdrückt. Sie ist unter anderem mit Zdenek Stybar, Kasper Asgreen und Yves Lampaert am Start.