Es sind Begegnungen und Erlebnisse, die eine Sicht auf die Dinge justieren. Also gleich dort beginnen, wofür Katar steht: das Unmögliche möglich machen. Im Nordosten Dohas liegt die künstlich angelegte Insel «The Pearl», über 400 Hektaren gross. Auch bezeichnet als «arabische Riviera».
Jachten und Luxusrestaurants säumen das Meeresufer, in den Hochhäusern und Villen wohnen vorwiegend reiche Expats aus den Golfanliegerstaaten. Aus der Ferne blinzelt der Halbmond der Katara Towers, neues Wahrzeichen einheimischer Gastfreundschaft.
An diesem Ort ist von der WM nichts zu spüren. Menschen hat es kaum, bis auf die vielen Bauarbeiter, die weiter an «der Perle» werken. So künstlich und seelenlos hier alles wirkt, so schnell will man die Szenerie verlassen. In der Metro fragt eine junge Frau nach dem Weg. Sie ist aus Sri Lanka und eine Gastarbeitende wie 90 Prozent der drei Millionen Bewohner, die den Scheichs den Betrieb ihres Emirats garantieren.
Das selbst ernannte Kulturdorf Katara etwas südlich hat es dafür in sich. Die U-Bahn-Station ist von der Galeries Lafayette umhüllt, was auf den zweiten Blick Sinn ergibt; es fällt schwer, als Fremder den Ausgang aus dem edlen Kaufhaus zu finden, in dem man sich auch mit Gin, Wein oder Champagner eindecken kann. Alkoholfrei. Draussen ist die Fussgängerzone heruntergekühlt, was irgendwie schräg ist, aber ein angenehmes Gefühl verursacht.
Plötzlich öffnet sich die Gasse, und das Wandgemälde des kubanischen Künstlers Maisel López sticht ins Auge. Es stellt zwei Buben aus verschiedenen Kulturen dar, die dank ihrer Leidenschaft für den Fussball in Kontakt treten.
Gianni Infantino betont ja bei jeder Gelegenheit, dass der Fussball die Klammer der Welt sei. Nicht der FIFA-Präsident, doch ein älterer Herr kommt daher, und bald sagt er: «Ich motiviere die Leute und helfe ihnen, dass sie das Richtige tun. Der muslimische Glaube ist schön.» Der bärtige Mann heisst Dien, stammt aus Malaysia und ist extra für die WM hergekommen, um eine Ausstellung zum Islam zu zeigen. Er ist zuvorkommend, das WM-Spiel Senegal gegen Ecuador beabsichtigt er sich anzuschauen. Katar gefalle ihm, bis auf die Hitze, er sei gerne hier. Dann umreisst er den Koran und fragt: «Wir alle sind Christen, woran glauben Sie?»
In Katara ist es so ruhig wie angenehm, alles sauber und wunderbar verwinkelt. Man wähnt sich in einer Oase des Seins. Der Blick aufs Meer bestätigt dieses Gefühl. Beim frühen Eindunkeln nimmt das Treiben auf der weitläufigen Promenade zu. Einheimische Männer in ihrem knöchellangen, weissen Thwab laufen ebenso herum, wie verhüllte, schwarz gekleidete Frauen; trotz unterdrückter Rechte machen sie keinen unglücklichen Eindruck. Und es fällt auf, wie vor allem die Männer ständig an ihrem Handy hängen. Vielleicht halten hier ja die Akkus länger. Im Hintergrund präsentiert eine Leinwand Szenen zum Schweizer Nationalteam: Seferovic, Sommer und Zakaria sind gross im Bild. Bald ist es Kaká, der frühere brasilianische Fussballstar, der am TV über seine Erlebnisse an Weltmeisterschaften redet.
Muhab, ein 62-jähriger Mann, sitzt im traditionellen Gewand auf einer Holzbank, neben ihm drei Frauen im Chador. Die vier Menschen wirken sehr vertraut. «Wir sind sehr stolz, dass wir die WM ausrichten und uns zeigen dürfen», sagt der Mann. Zu Menschenrechten und derlei Dingen mag er sich nicht äussern, nun versteht er gar kein Englisch mehr. Plötzlich sagt eine der Frauen, die beim Übersetzen teilweise geholfen hat: «Schauen Sie, uns ist es nicht erlaubt, mit Ihnen zu reden.» Aufs Foto darf nur Muhab.
An der Bucht blicken drei Arbeitsmigranten aufs Meer, erschöpft sehen sie aus. Aber nicht unzufrieden. Sie kommen aus Indien und müssen das Land demnächst verlassen. Der Vertrag läuft aus. Es geht weiter, auch für das Trio. Unerwartet öffnet Manuel Neuer als 30-Meter-Riese vor Passanten die Arme – Deutschlands Nationalgoalie ist auf die moderne Fassade eines Hochhauses projiziert. Hier, im Stadtteil West Bay, ist abermals sichtbar, wozu Katar fähig ist. Die Silhouette der Wolkenkratzer ist imposant, farbenfroh. Zu Ende gedachte Architektur vom Feinsten.
Richtung Stadtzentrum geht es nun die «Corniche» entlang. An der breiten Strandstrasse findet das Fan-Festival statt. Noch sind die letzten Vorbereitungen in Gang, man scheint bereit. Das Meeresrauschen ist nicht zu hören, weil Schiffe, die aussehen wie Galeeren, mit einem Mix aus europäischen Dancefloorsongs und indischen Klängen zum Tanz einladen. Die Fahrt kostet umgerechnet sechs Franken, Rabatte sind möglich.
Knallig ist es hier, es herrscht entlang dem Persischen Golf eine bunte Atmosphäre. Und es ist nicht das erste Mal, dass man denkt: Die WM könnte ein Farbtupfer werden. Vielleicht nicht die beste bislang, wie sie Infantino grossmundig ankündigt. Doch nicht so übel, wie wir sie gerne sehen. Die Leute sind sehr freundlich, sehr fröhlich – das ohne Alkohol.
Ein Fan im Argentinien-Leibchen macht Fotos. Srwarhossen nennt sich der 22-Jährige. Er kommt aus Bangladesch, ist angestellt bei einer Arbeitsvermittlung und verdient 600 Franken im Monat. Mit Freunden aus der Heimat ist er einer von Tausenden, die unterwegs sind. «Argentinien ist mein Team, es wird Weltmeister.» Ein Fake-Fan, wie sie die FIFA offenbar in und nach Katar dirigiert, ist er nicht. Er sagt: «Die Schweiz muss so schön sein, ich will einmal dahin.»
Vorbei geht es an einer Show draussen im Meer, sie ist ein spektakuläres Zusammenspiel aus Wasser, Feuer, Nebel und lauter Musik. Weiter vorne legt ein DJ auf, vor seiner Bühne platzt es aus allen Nähten. Die Handys sind stets gezückt, es gilt alles festzuhalten. Alles mitzuteilen. Frauen, und ganz allgemein Europäer, hat es fast keine.
Um Mitternacht gibt der «Souq Waqif» keine Ruhe, so voller Leben ist der alte Markt im Zentrum. Nach der Moderne ist er die volle Ladung Tradition und ein Sammelbecken für alle und alles. Kleidungsstücke, feinste Gewürze sind zu kaufen, in engen Käfigen auch Schildkröten, Leguane oder Gleitbeutler. Vor allem Vögel. Deren drei sitzen vor einem Laden auf einer Stange, warum fliegen sie nicht fort? Samir sagt: «Ich habe ihnen die Flügel gebrochen. Ich weiss, wie das geht.».
Seit zwölf Jahren verkauft er die Vögel. Drinnen im Geschäft stinkt es bestialisch, der Geschmack dringt so tief in die Nase ein, dass er selbst eine Stunde später nicht neutralisiert ist. In der Nähe gibt es Falken zu erwerben, allen sind die Augen verdeckt. Edelste Exemplare kosten je nach Farbe und Brustgrösse bis zu eine Million Franken. Weibchen erzielen bessere Preise, sind Statussymbole.
An einem übervollen Platz jubeln englische Fans, die aussehen wie Araber, mit algerischen um die Wette. Ein Zidane-Double lässt sich effekthascherisch bei den Algeriern nonstop fotografieren, die nicht einmal WM-Teilnehmer sind. «Seid ihr echte Fans?»
Doha muss an dieser WM alles allein schaffen. Müde macht die Stadt, eine schöne Müdigkeit ist es. Auch löst Doha schöne Gedanken aus – man muss sie nur zulassen.
Was soll dieser Artikel? Es hat ja nie jemand behauptet, dass dort alles nur hässlich ist und alle Menschen Monster sind.
🤨
Man kann einfach ignorieren , dass 97% der Menschen da wie Dreck behandelt werden oder die Menschenrechte verweigert wird.
Nämlich allen Frauen, LGBQS, den meisten Arbeitnehmer*innen, die oft wie Sklaven gehalten werden und der Pass genommen wird.
Es braucht schon extrem viel Ignoranz für so einen Artikel.
Meiner Meinung nach sind Inernationale sportliche Austragungsorte nur noch in Ländern durchzuführen, die die Menschenrechtscharta unterschrieben und gesetzlich umgesetzt haben.