Eines der bekanntesten Bücher für Anleger trägt den Titel «A Random Walk Down Wall Street». Darin vertritt der Finanzprofessor Burton G. Malkiel die These, wonach die Börse die Verkörperung der ultimativen Vernunft sei, denn dank der geballten Schwarmintelligenz aller Marktteilnehmer seien alle Informationen in Echtzeit in den Aktienkursen enthalten.
Derzeit hat man nicht den Eindruck, dass sich die Investoren besonders vernünftig verhalten. Obwohl die Ökonomen von einer schweren Rezession, ja gar von einer Depression warnen, obwohl Massenarbeitslosigkeit droht und niemand so recht weiss, wie man die Wirtschaft wieder in Schwung bringen will, haben die Aktienkurse zu Beginn der Woche wahre Freudensprünge aufgeführt. Die Frage drängt sich auf: Spinnen die Investoren oder was?
Nicht ganz, sie befolgen vielmehr den von Carl Meyer von Rothschild geprägten Rat: «Kaufe, wenn die Kanonen donnern und verkaufe, wenn die Violinen spielen.»
Will heissen: Wenn die Nacht am dunkelsten ist und Pessimisten das Ende der Menschheit heraufbeschwören, befinden sich auch die Kurse auf dem Tiefstpunkt. Wer jetzt die Nerven behält und zuschlägt, wird mit hohen Gewinnen belohnt.
Die Börsengeschichte zeigt zudem, dass dieses Gewinnfenster nur kurze Zeit offen ist. Den grossen Reibach macht, wer rasch zugreift. Alle wollen daher auf den Zug springen, bevor er den Bahnhof verlässt.
Nach den happigen Verlusten der letzten Wochen sind viele Aktien tatsächlich zu einem Schnäppchenpreis zu haben. Und obwohl die Kanonen weiter donnern – die Zahl der Infizierten und Toten steigt weiter – zeichnen sich erste Hoffnungsschimmer ab.
So zeigt sich beispielsweise, dass die schlimmsten Szenarien wahrscheinlich nicht eintreten werden, zumindest nicht im Westen. Bei den Modellrechnungen gibt es grosse Differenzen. Einzelne Staaten beginnen bereits, die strengen Lockdown-Regeln teilweise wieder aufzuheben.
Die Ökonomen ihrerseits revidieren ihre Wachstumsprognosen teilweise nach oben. Die Swiss Life etwa hat soeben eine Studie veröffentlicht, die bereits für nächstes Jahr eine kräftige Erholung des Bruttoinlandprodukts (BIP) führender Industrienationen prognostiziert: Das BIP der USA soll 3,2 Prozent, das BIP der Eurozone 2,8 Prozent, das BIP der Schweiz 3,1 Prozent und das chinesische BIP gar 8,4 Prozent zulegen.
Bevor du nun aber deinen Broker anrufst, solltest du eine Kaffeepause einschalten und auch die Dinge in Betracht ziehen, die gegen eine rasche Erholung sprechen. Da gibt es einige:
Der durch das Coronavirus verursachte Lockdown war ein gewaltiger Schock für die Weltwirtschaft. Bis alle Versorgungsketten wieder funktionieren, könnte es dauern. Selbst kleinste Dinge können grosse Folgen haben. Wird – um ein fiktives Beispiel zu nennen – bei VW der Motor für den Scheibenwischer nicht angeliefert, steht in Wolfsburg die ganze Produktion still.
In den USA gibt es keine Unterstützung für Kurzarbeit. Innert Wochen ist der Arbeitsmarkt von Vollbeschäftigung in die Massenarbeitslosigkeit gekippt. Wer und wie viele nach dem Ende der Coronakrise wieder einen Job haben werden, ist ungewiss.
Ebenso ist nicht geklärt, wer wie viel vom beschlossenen Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspaket erhalten wird. Das könnte zu hässlichen Verteilungskämpfen führen. Die Tatsache, dass Präsident Trump soeben den dafür zuständigen Wachhund gefeuert und einen ihm ergebenen Handlanger eingesetzt hat, stimmt nicht eben optimistisch.
Die Hälfte der Amerikaner lebt von der Hand in den Mund und verfügt zudem über keinerlei Sparvermögen. Sollte es mit der Verteilung der Hilfe nicht klappen, drohen Unruhen. Kommt dazu, dass die Amerikaner seit Ausbruch der Krise so viele Waffen gekauft haben wie noch nie.
In Europa bahnt sich derweil eine Wiederholung der Eurokrise an. Auch gestern konnten sich die EU-Finanzminister nicht auf ein gemeinsames Hilfsprogramm einigen. Das schlägt nicht nur finanzielle, sondern auch psychologische Wunden.
In den Südstaaten – vor allem in Italien – ist die einst EU-freundliche Stimmung ins Gegenteil gekippt. Im Norden wehrt man sich mit Händen und Füssen gegen sogenannte Coronabonds, einer Wiederauflage der verhassten Eurobonds.
Von einem solidarischen Vorgehen gibt es keine Spur. So hat etwa der Wissenschaftschef der EU, Mauro Ferrari, das Handtuch geworfen, weil es immer noch nicht gelungen ist, eine gemeinsame Strategie gegen das Virus festzulegen.
Und schliesslich: Was passiert in den Schwellenländern? Was, wenn in Afrika, Indien und Südamerika die Zahl der Infizierten explodiert? Was geschieht in den Flüchtlingslagern und in den Elendsvierteln?
Wer jetzt an den Börsen auf Schnäppchen-Jagd geht, nimmt ein grosses Risiko auf sich. Der wilde Ritt auf der Achterbahn geht vorerst weiter. Erst wenn ein Impfstoff gegen das Virus gefunden worden ist, wird sich die Lage beruhigen. Das könnte aber noch dauern.
Ein System am Ende, reines Casino.
Frage für einen Freund...
Die Kanonen haben zwar schon mal gedonnert, aber das "grosse Manöver" kommt wohl noch.