Zoltan Pozsar, Analyst bei der Credit Suisse, erklärte kürzlich seinen Kunden die alte Welt der Globalisierung wie folgt:
Was Pozsar auf den Punkt bringt, ist inzwischen eine ökonomische Welt von gestern. Der grenzenlose Wettbewerb, die weltumspannenden, ausgeklügelten Lieferketten, die billige Energie und die billigen Arbeitskräfte – all dies war einmal.
Was Pozsar schildert, waren jedoch auch die Voraussetzungen für billige Smartphones und Flachbildschirme, und dass die Zentralbanken sorglos die Zinsen bis ins Negative schrauben konnten. Schliesslich lebten wir im Zeitalter der «grossen Moderation», wie die Ökonomen es nannten. Und wir lebten im Zeitalter einer «Sparflut», von welcher der ehemalige Fed-Präsident Ben Bernanke sprach.
Die Inflations-Falken, die wegen der lockeren Geldpolitik und der wachsenden Staatsschulden in regelmässigen Abständen vor einer drohenden Hyperinflation warnten, machten sich derweil ebenso regelmässig lächerlich. Nun jedoch machen sich diejenigen lächerlich, welche die seit mehr als einem Jahr grassierende Inflation «vorübergehend» nannten. Es trifft zwar zu, dass diese Inflation ausgelöst wurde durch ein seltenes Phänomen – dass nämlich wegen der Covidkrise das Angebot zeitweise kleiner war als die Nachfrage –, doch inzwischen hat sich die Teuerung als weit hartnäckiger erwiesen und zwingt die Zentralbanken zum Handeln.
Deshalb hat die Europäische Zentralbank (EZB) soeben eine Erhöhung der Leitzinsen um 0,75 Prozentpunkte bekannt gegeben; bereits die zweite Zinserhöhung und die bisher grösste in ihrer 24-jährigen Geschichte. Von der US-Zentralbank, der Fed, wird erwartet, dass sie noch in diesem Monat erneut die Leitzinsen in gleicher Höhe nach oben schrauben wird. Dabei hat sie in diesem Jahr bereits mehrere Zinsschritte vorgenommen. Selbst die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat im Juni die Leitzinsen überraschend um 0,5 Prozentpunkte erhöht.
Die Leitzinserhöhungen erscheinen auf den ersten Blick paradox, denn sowohl die amerikanische als auch die europäische Wirtschaft sind im Begriff, in eine Rezession abzugleiten. Gemäss ökonomischem Lehrbuch müsste man daher bald mit sinkenden Leitzinsen rechnen. Doch derzeit richtet sich die wirtschaftliche Realität nicht nach der ökonomischen Theorie.
Beispiel USA: Obwohl die Fed die Geldpolitik gestrafft hat und noch weiter straffen wird, und obwohl inzwischen sämtliche Ökonomen vor einer drohenden Rezession warnen, ja, obwohl sich die amerikanische Wirtschaft gemäss gängiger Definition – zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Wachstum – bereits in einer Rezession befindet, boomt der Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit beträgt in den USA derzeit rekordtiefe 3,8 Prozent. Für amerikanische Verhältnisse bedeutet dies nicht nur Vollbeschäftigung, sondern eine Überhitzung des Arbeitsmarktes. Das wiederum bedeutet, dass die Löhne weiterhin steigen werden. Die Arbeitnehmer freut dies, die Politiker und die Zentralbanker weniger, denn es bedeutet auch, dass die Inflation nicht so schnell verschwinden wird.
Jason Furman, ein ehemaliger Wirtschaftsberater von Barack Obama und einflussreicher Wirtschaftsprofessor, rechnet daher in einem Kommentar im «Wall Street Journal» vor, dass die Arbeitslosenquote auf 6,5 Prozent ansteigen müsste, damit die Fed ihr angestrebtes Inflationsziel von 2 Prozent erreichen kann. Mit anderen Worten: Es braucht eine eigentliche Rosskur.
Noch schlimmer sieht es im Vereinigten Königreich aus. Dort ist die Inflation inzwischen in den zweistelligen Bereich geklettert. Pessimisten befürchten gar in absehbarer Zeit eine Teuerungsrate von gegen 20 Prozent. Die Briten haben sich den Schlamassel teilweise selbst eingebrockt. Mit dem Brexit haben sie sich vom europäischen Arbeitsmarkt abgeschnitten. Schon im vergangenen Winter kam es wegen eines Mangels an Lastwagen-Chauffeuren zu gröberen Versorgungsschwierigkeiten. Jetzt treibt der generelle Mangel an Arbeitskräften die Inflation an.
Im Vergleich zur Insel sind die Verhältnisse bei uns noch paradiesisch, beträgt doch die Inflation derzeit 3,5 Prozent. Doch die Voraussetzung für eine hartnäckige Teuerung sind auch in der Schweiz gegeben. «Die Kombination aus Inflation und Arbeitskräftemangel ist gefährlich», warnt der emeritierte Wirtschaftsprofessor Urs Müller in der NZZ. «Sie dürfte zu Lohnforderungen im Bereich von 3 bis 4 Prozent führen, was eine schädliche Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen könnte.»
Thomas Friedman, Kolumnist bei der «New York Times», sorgte 2005 mit seinem Buch «Die Welt ist flach» für Aufsehen. Er vertrat darin die These, dass wegen der Globalisierung der wirtschaftliche Wettbewerb weltumspannend geworden sei und kein Land sich ihm entziehen könne, es sei denn, man wolle nordkoreanische Verhältnisse.
Friedmans Buch wurde einst als Hymne auf die Globalisierung gefeiert. Heute weckt sie bestenfalls noch nostalgische Gefühle. Die Globalisierungs-Euphorie ist passé, das Gespenst der Inflation ist zurück, die Welt ist auch ökonomisch gesehen wieder eine Kugel – und wird es wohl auf absehbare Zeit auch bleiben.
Und bei diesen 2.7% weiteren Arbeitslosen geht es natürlich nicht um Banker*Innen, Unternehmensberater*Innen, ITler*Innen und anderen, die sich mit ihren aktuell horrenden Gehältern durchaus auch mal eine Pause gönnen können, sondern um die Leute die eh schon am unteren Ende der Nahrungskette stehen.
Wenn das System zur Stabilität eine weitere Verarmung verlangt, dann ist offensichtlich etwas falsch im System.
Diese Lohnforderungen kommen auch daher, dass gewisse Branchen und Hierarchiestufen die letzten 20 Jahre komplett in die Röhre geschaut haben. Die inflationsbereinigten Reallöhne des Durchschnitts sind in den letzten 20 Jahren gesunken, während man anderenorts nicht aufhören konnte, Party zu feiern. Diese dringend überfällige Korrektur jetzt wegen Panikmache vor Zweitrundeneffekten noch weiter zu verzögern, ist lediglich Fallhöhenoptimierung.