Im Jahr 1910 veröffentlichte der britische Wirtschaftsjournalist Norman Angell ein Buch mit dem Titel «Die Grosse Illusion». Es wurde in Kreisen von Politik und Wirtschaft eifrig diskutiert. Sein Inhalt ist rasch zusammengefasst: Der globale Kapitalismus habe kein Interesse mehr an einem Krieg, so Angell. Zu viel stehe auf dem Spiel.
Angells Logik war rational unangreifbar. Der Boom der Belle Époque hatte endlich die Früchte der industriellen Revolution reifen lassen und zu einem wohlhabenden Mittelstand in den westlichen Ländern geführt.
Die Unternehmer ihrerseits hatten dank der Globalisierung attraktive Märkte in allen Erdteilen gefunden. Welcher vernünftige Mensch würde dies alles aufs Spiel setzen wollen? Im August 1914 begannen in Belgien die Kanonen zu donnern. Europas Selbstmord nahm seinen Lauf.
Bezüglich Trump herrscht heute vielerorts die gleiche Einstellung. So kommentiert etwa watson-User Toerpe Zwerg – ein scharfsinniger Beobachter des Weltgeschehens, obwohl er selten meine Ansichten teilt – meine Analyse «Zettelt Trump einen neuen Krieg an?» wie folgt:
Der Erste Weltkrieg ist nicht vom Himmel gefallen. Von Marokko bis zum Balkan gab es in den Jahren zuvor immer wieder Scharmützel. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo liess schliesslich Europa eher zufällig in seinen Untergang schlafwandeln. Offenbar hatte man in Wien Angells Buch nicht gelesen.
Auch im 21. Jahrhundert können Scharmützel aus dem Ruder laufen. Der Abschuss des malaysischen Passagierjets über der Ukraine beispielsweise war ein Betriebsunfall. Die von Russland unterstützten Rebellen hatten höchstwahrscheinlich das zivile Flugzeug mit einem militärischen verwechselt.
Derzeit haben weder die USA noch der Iran ein Interesse an einem heissen Krieg. Aber was, wenn sich ein Betriebsunfall im Persischen Golf ereignet? Mohammad Javad Zarif, der iranische Aussenminister, hatte kürzlich gewarnt, die Regierung Trump würde «die Dinge so ordnen, dass Unfälle passieren können».
Auch der Handelskrieg mit China ist ein Unfall, der darauf wartet, zu passieren. Das Hin und Her der letzten Wochen muss irgendwann ein Ende finden. So hat Trumps Stabschef Mick Mulvaney kürzlich erklärt, die «Verhandlungen können nicht ewig weitergehen».
Die Finanzmärkte haben das Verwirrspiel zwischen Washington und Peking bisher erstaunlich gelassen über sich ergehen lassen. Anders als vor Weihnachten hielten sich die Verluste an den Börsen in den letzten Tagen in Grenzen.
Grund für die Gelassenheit der Investoren ist der sogenannte «Trump Put». Will heissen: Die Investoren haben sich daran gewöhnt, dass der US-Präsident zwar wilde Drohungen in den Raum stellt, sie im letzten Moment jedoch wieder zurückzieht.
Der «Trump Put» ist jedoch eine trügerische Sache. Ultimaten kann man nicht beliebig oft aussprechen, ohne alt auszusehen. Weder Trump noch Xi Jinping sind bekannt dafür, dass sie gerne das Gesicht verlieren. Bleiben beide hart, dann könnte der «Trump Put» verheerende Folgen haben.
Neil Irwin schreibt in der «New York Times»:
Die Gefahr wird verstärkt durch die Tatsache, dass sich Trump innenpolitisch unter sehr starkem Druck befindet. Zwischen ihm und dem demokratisch dominierten Abgeordnetenhaus ist ein Machtkampf auf Biegen und Brechen ausgebrochen. Jerrold Nadler, der Vorsitzende des Judiciary Committee, spricht gar von einer Verfassungskrise.
Trump hat per Dekret verordnet, dass weder der unzensierte Mueller-Report noch Zeugen noch seine Steuerunterlagen dem Kongress zur Verfügung gestellt werden dürfen. Sein Justizminister weigert sich, zu einem Hearing zu erscheinen. Vorladungen werden ausgehändigt und Drohungen ausgesprochen. Letztlich geht es um die Frage: Steht der Präsident über dem Gesetz? Oder schlimmer: Droht die amerikanische Demokratie in ein autoritäres Regime zu kippen?
Die Frage ist keineswegs utopisch. Die beiden Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt stellen in ihrem Buch «How Democracies Die» fest: «Wir fürchten, dass Trump – sollte er sich einem Krieg oder terroristischen Anschlag gegenübersehen – diese Krise zum Anlass nähme, seine Gegner frontal zu attackieren und die Freiheiten, die sich Amerika gewohnt ist, einzudämmen. Unserer Meinung nach stellt dies die grösste Bedrohung dar, vor der die amerikanische Demokratie steht.»