Angefangen hat es mit Alexandria Ocasio-Cortez: Kaum in Washington angekommen, schlug die junge demokratische Abgeordnete aus New York vor, jährliche Einkommen von über zehn Millionen mit einem Grenzsteuersatz von 70 Prozent zu belegen.
Danach war Elizabeth Warren an der Reihe. Die gestandene demokratische Senatorin aus dem Bundesstaat Massachusetts gab nicht nur ihre Präsidentschaftskandidatur bekannt, sondern auch ihren Plan, Vermögen von über 50 Millionen Dollar jährlich mit zwei Prozent, Vermögen von über einer Milliarde Dollar zusätzlich mit einen Prozent belasten zu wollen.
Schliesslich stieg auch Kamala Harris, demokratische Senatorin aus Kalifornien, in den Ring. Sie fordert eine Einheitskrankenkasse für alle, finanziert aus zusätzlichen Steuereinnahmen von den Superreichen.
Die Reaktion folgte auf den Fuss. Republikaner und Fox News haben ein permanentes Trommelfeuer auf die progressiven Frauen eröffnet. Sie werden die blühende US-Wirtschaft zerstören und das Land in ein neues Venezuela verwandeln, heulen sie.
Auch die Zentristen bei den Demokraten geben sich entsetzt. Michael Bloomberg, ehemaliger Bürgermeister von New York, und Howard Schultz, ehemaliger CEO von Starbucks, haben die Steuer- und Krankenkassenpläne scharf verurteilt. Beide sind Milliardäre, die den Demokraten nahestehen, aber gleichzeitig mit dem Gedanken spielen, ebenfalls für das Amt des Präsidenten zu kandidieren.
Bis vor kurzem wären die Vorschläge der drei progressiven Frauen als «unamerikanisch» abgelehnt worden. Schliesslich gelten die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo Tellerwäscher über Nacht reich werden können und Arme «sich als vorübergehend verhinderte Millionäre sehen», wie der kanadische Schriftsteller Ronald Wright einst scharfsinnig feststellte.
Das war einmal. Heute erinnern die Zustände in den USA wieder an die Zeit der Räuberbarone wie John Rockefeller, JP Morgan und Cornelius Vanderbilt. Es gibt eine absurd reiche und dekadente Elite, eine ausgepowerte Mittelschicht und ein immer grösser werdendes Prekariat. Die Aufstiegsmöglichkeiten sind sehr begrenzt geworden, die Reichen schotten sich ab und bleiben unter sich.
Vor allem die Jungen leiden unter diesen Zuständen. Viele Hochschulabgänger müssen Schulden in sechsstelliger Höhe abstottern und haben keine Aussicht, in absehbarer Zeit eine Familie gründen, geschweige den ein Haus kaufen zu können. Sie leben oft immer noch bei ihren Eltern, weil sie mit ihren Praktikanten-Löhnen nicht über die Runden kommen.
Der Zeitpunkt, die Superreichen zur Kasse zu bitten, scheint somit gekommen zu sein. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner die Steuerpläne von Ocasio-Cortez unterstützt, selbst bei Republikanern sind es 45 Prozent. Eine ähnliche Vermögenssteuer wie Elizabeth Warren schlägt derweil Amerikas bekanntester Milliardär vor: Warren Buffett.
Nicht einmal die Mainstream-Ökonomen verwerfen die Hände. Sie diskutieren stattdessen über die Höhe des Grenzsteuersatzes. Emmanuel Saez, ein führender Steuer-Experte, und der Nobelpreisträger Peter Diamond kommen in einer gemeinsam verfassten Studie zum Schluss, dass ein Grenzsteuersatz von 73 Prozent vertretbar wäre. Gregory Mankiw, ehemaliger Wirtschaftsberater von George W. Bush, sieht die obere Grenze bei knapp unter 50 Prozent.
Wie hoch die Superreichen besteuert werden sollen, ist im Zeitalter der wachsenden Ungleichheit zum explosivsten sozialpolitischen Problem geworden. Das bekamen selbst die Teilnehmer am WEF in Davos zu spüren. In einer Brandrede hielt ihnen der holländische Historiker Rutger Bregman den Spiegel vors Gesicht.
Weder der Rockstar Bono noch Wohltätigkeit seien hilfreich, rief er aus. Das Einzige, das zähle, seien gerechte Steuern. Genau darüber werde jedoch nicht gesprochen, klagte Bregman. «Deshalb komme ich mir vor wie ein Feuerwehrmann, der nicht über Wasser diskutieren darf.» Das ist im Begriff, sich zu ändern. Das Bonmot «jeder Milliardär ist ein Versagen der Politik» ist im Mainstream angekommen.
Die Superreichen werden sich daran gewöhnen müssen, dass über Grenzsteuersätze gesprochen wird – und zwar laut und öffentlich.