Begonnen hat alles harmlos: Zuerst kündigte Thomas Jordan, Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) die Einführung von Negativzinsen ein. Rund einen Monat später folgte die überraschende Aufgabe des Mindestkurses. Schliesslich gab Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), bekannt, er werde die Märkte mit billigem Geld fluten, um der serbelnden europäischen Wirtschaft auf die Beine zu helfen.
Nur dämmert es allmählich, dass wir plötzlich in einer ganz anderen Finanzwelt mit ganz anderen Regeln leben. Die Ökonomen der UBS haben versucht zu analysieren, was dies konkret bedeuten könnte. Das Resultat ist ernüchternd: «Die Negativzinsen könnten die Stabilität unserer Wirtschaft mehr gefährden als der Mindestkurs», stellt Lukas Gähwiler fest. Er ist bei der UBS verantwortlich für das Inlandgeschäft.
Negativen Zinsen werden uns noch längere Zeit begleiten. Im Normalfall sollten sich die Zinsen im Jahr 2017 wieder ins Positive drehen, aber Genaueres weiss man nicht. Auf den Finanzmärkten sind Renditen der Schweizer Staatsanleihen so eingepreist, dass sie davon ausgehen, dass in den nächsten zehn Jahren eine durchschnittliche Deflation von 1,5 Prozent herrschen wird. Das bedeutet, dass wir heute in den viel zitierten und gefürchteten «japanischen Verhältnissen» leben.
Die Kombination von negativen Zinsen und leichter Deflation hat hässliche Nebenwirkungen. Eine davon ist, dass Investoren auf ihrer verzweifelten Suche nach Renditen das Risiko ignorieren und sich blindlings in Aktien und Immobilien stürzen. Das erhöht die Gefahr der Blasenbildung. «Dass sich der SMI so rasch erholt hat, hat nichts mit den Fundamentaldaten zu tun», betont Gähwiler.
Eine weitere Folge ist die Tatsache, dass die Arbeit im Verhältnis zum Kapital teurer wird. Das wiederum bedeutet, dass die Unternehmen starke Anreize haben, Arbeitsplätze entweder ins Ausland zu verlagern oder durch Maschinen zu ersetzen. Die UBS rechnet daher auch mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf vier, im schlimmsten Fall auf deutlich über fünf Prozent.
Für die Banken sind negative Zinsen ebenfalls eine grosse Herausforderung. Ihr Geschäft besteht letztlich darin, die Bedürfnisse der Sparer und diejenigen der Kreditnehmer unter einen Hut zu bringen. Sparer wollen möglichst hohe Zinsen und möglichst kurzfristige Verfügbarkeit ihres Sparkapitals. Kreditnehmer das Gegenteil: möglichst tiefe Zinsen und langfristige Verlässlichkeit.
Selbst unter normalen Bedingungen ist es schwierig, diese Fristenkongruenz – wie es in der Fachsprache heisst – herzustellen. Negative Zinsen machen diesen Spagat fast unmöglich. «Die Balance läuft aus dem Ruder», sagt Gähwiler. Wer also daran denkt, eine langjährige Hypothek abzuschliessen, sollte sich sputen.
Die grösste Gefahr droht jedoch der Altersvorsorge. «Alle drei Systeme sind betroffen», erklärt dazu UBS-Chefökonom Daniel Kalt. Bei der AHV könnte der Ausgleichsfonds schon 2024 aufgezehrt sein. Die Pensionskassen können die versprochenen Renditen nicht mehr bezahlen, und in der dritten Säule sinkt die Rendite gegen Null. Politiker verschiedener Parteien fordern die SNB daher auf, die Altersvorsorge von den negativen Zinsen zu verschonen.
Die Tatsachen, dass die Menschen in der Schweiz immer älter werden, macht es nicht besser. Beim aktuellen Umwandlungssatz von 6,8 Prozent reicht das Pensionskassenkapital für durchschnittlich 14,7 Jahre nach Rentenantritt. Der durchschnittliche Rentner lebt jedoch heute schon 23 Jahre über sein Pensionierungsalter hinaus. «Wenn nichts geschieht, wird es zu einem neuen Verteilungskampf zwischen den Generationen kommen», befürchtet Kalt.
«Negative Zinsen bestrafen den Sparer», betonen Gähwiler und Kalt und weisen daraufhin, dass die Wirtschaft positive Zinsen braucht. Nur so wird das Sparen gefördert und damit das notwendige Geld für Kredite zur Verfügung gestellt. Das stimmt nur bedingt, und zwar aus zwei Gründen.
«Schwundgeld» geht auf die Theorie des Freigeldes von Silvio Gesell zurück. Gesell war ein deutscher Kaufmann, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien reich wurde und dann nach Europa zurückkehrte. Eine Zeitlang lebte er auf einem Bauernhof im Neuenburger Jura.
Für Gesell sind Sparer kein Segen sondern ein Fluch. Sie horten Geld und entziehen es so dem Kreislauf. Das führt letztlich dazu, dass Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden. Deshalb muss man Sparer nicht belohnen, sondern bestrafen. Das bedeutet konkret, dass Geld an Wert verliert, wenn es länger als eine bestimmte Zeit – beispielsweise ein Jahr – nicht ausgegeben wird. Es wird abgewertet, erhält damit eine Art indirekten Negativzins.
Gesell machte dabei folgende Überlegung: In Krisenzeiten wird das Geld gehortet. Alle hoffen auf bessere Zeiten. Die Konsumenten shoppen und die Unternehmer investieren nicht. Das führt zu einer Verelendungsspirale. Diese kann mit negativen Zinsen durchbrochen werden, weil dann das Warten und Horten bestraft wird.
Der Berner Werner Zimmermann hat in den 1930er Jahren die Theorie des Freigeldes aufgegriffen und die WIR-Bank gegründet. Sie hat zunächst mit «Schwundgeld» gearbeitet, die negativen Zinsen jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder abgeschafft.
WIR-Geld gibt es jedoch nach wie vor. Es ist zu einer Art Parallelwährung geworden, die vor allem im Gewerbe noch heute floriert. «Die Teilnehmerzahl ist über die Jahrzehnte ziemlich stabil geblieben, 2014 waren es rund 60’000», schreibt Hervé Dubois in seinem Buch «Faszination WIR».
Gerade in Krisenzeiten erhält WIR-Geld Aufwind. Es wäre beispielsweise denkbar, dass Griechenland eine Art «Drachmen-Wir» als Komplementärwährung zum Euro einführt und der regionalen Wirtschaft auf die Beine helfen würde.
In der Schweiz allerdings leidet die WIR-Bank derzeit, weil alle tiefe Zinsen anbieten. Wegen der Negativzinsen der SNB ist das WIR-Modell salonfähig geworden. Trotzdem wird es weiterbestehen. «Als Genossenschaft haben wir heute viel mehr Vertrauen als die anderen Banken», sagt WIR-Kommunikationschef Peter Bellakovics.