Fast über Nacht hat sich in Europa ein neuer Konsens herausgebildet. Er lautet wie folgt: Die Austeritätspolitik war ein Erfolg. Spanien, Portugal und Irland befinden sich auf einem guten Weg. Nur die störrischen und heimtückischen Griechen wollen einfach nicht mitziehen. Deshalb gehörten Tsipras, Varoufakis & Co. in den Worten des ARD-Brüssel-Korrespondenten Rolf-Dieter Krause «zum Teufel gejagt».
Wer das Geschehen in Euroland nicht erst seit 14 Tagen beobachtet, reibt sich verwundert die Augen: Noch im Frühjahr hat es ganz anders getönt. Da hat sich die deutsche Bundesbank mit Händen und Füssen gegen die Geldpolitik von Mario Draghi und die Europäische Zentralbank (EZB) gewehrt. Da wurde lauthals darüber geklagt, dass Frankreich einmal mehr die Kriterien der jährlichen Neuverschuldung nicht einhalten und Italien keine Reformen durchführen kann.
Nun ist plötzlich Ruhe im Karton. Obwohl François Hollande seinen Wahlkampf um das Präsidentenamt gegen die deutsche Austeritätspolitik geführt hat, herrscht aus Paris Funkstille. Auch Rom verhält sich still.
Die Reihen haben sich geschlossen: An Griechenland muss ein Exempel statuiert werden. Dass dabei der ökonomische Verstand baden geht, spielt keine Rolle. «Die immer neuen Deadlines haben nur einen Zweck: Die Griechen dazu zwingen, das Nicht-Akzeptable zu akzeptieren», stellt dazu der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz fest.
Die Griechen haben Mist gebaut und über ihre Verhältnisse gelebt, kein Zweifel. Doch sie haben dafür bereits jetzt einen hohen Preis bezahlt. Unter dem Diktat der Troika haben sie harte Sparmassnahmen durchgeführt und dabei hinnehmen müssen, dass ihr Bruttoinlandprodukt um einen Viertel eingebrochen und die Arbeitslosigkeit gegen 30 Prozent gestiegen ist. Kein anderes Land hat eine solche Rosskur durchgeführt.
Diese Politik weiterzuführen, wäre Irrsinn, denn sie hat nicht zu einer Verminderung der Staatsschulden geführt. Im Gegenteil: Griechenland hat heute Schulden in der Höhe von rund 320 Milliarden Euro. «Und wir müssen begreifen, dass ein Teil der griechischen Schulden gestrichen werden muss. Dieses Geld wird niemals zurückfliessen», wie Helmut Schmidt in der «Zeit» schreibt.
Der hoch angesehene Ex-Bundeskanzler sagt auch klar, welcher Weg aus der Krise führen würde: «Was wir in der gegenwärtigen Situation am dringendsten brauchen, ist ein europäisches Investitionsprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe.» Mit anderen Worten: Griechenland kann nur mit einem Schuldenschnitt und einem Mini-Marshallplan wieder auf die Beine kommen.
In seinem Buch «Der globale Minotaurus» kommt Yanis Varoufakis zu ähnlichen Schlüssen. Er analysiert darin die Entwicklung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Und übrigens: Varoufakis ist ein anerkannter Wissenschaftler, der an mehreren Universitäten – unter anderem in Cambridge – gelehrt hat.
Er denkt in der angelsächsischen Tradition der Ökonomie. Diese unterscheidet strikt zwischen Betriebs- und Volkswirtschaft. Will heissen: Länder verhalten sich wirtschaftlich nach anderen Gesetzmässigkeiten als Unternehmen. Eurozone und die USA befinden sich nicht in einem Wettbewerb um Marktanteile wie beispielsweise Coca-Cola und Pepsi. Das Gesetz des komparativen Wettbewerbsvorteils besagt vielmehr, dass Handel zwischen den Ländern zu mehr Wohlstand für alle führt.
Der komparative Wettbewerbsvorteil funktioniert jedoch nur dann, wenn bestimmte Regeln eingehalten werden. Die wichtigste dieser Regeln ist, dass kein Land dauerhaft massive Exportüberschüsse zulasten der anderen Länder erwirtschaften darf. Genau dies macht Deutschland, und zwar in wachsendem Ausmass.
Der Exportwahn der Deutschen geht zulasten der anderen Mitglieder der Eurozone. Insgesamt sind in Euroland seit der Krise mehr als sechs Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. In Deutschland sind jedoch rund 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden.
Für Varoufakis ist klar, dass diese wirtschaftlichen Ungleichgewichte auch zu einer politischen Gefahr werden müssen. Er stellt deshalb fest, dass die wichtigste Ursache der Krise übersehen wird: «Das Fehlen eines Mechanismus für das Recycling von Überschüssen innerhalb der Eurozone.»
Mit dieser These ist Varoufakis kein Exot, im Gegenteil, er befindet sich im Mainstream. Ob IWF, US-Regierung oder Harvard: Heerscharen von Ökonomen – nicht wenige mit dem Nobelpreis geadelt – beknien Deutschland seit Jahren, von seinem Exportwahn zu lassen.
In der angelsächsischen Presse wird deshalb Tsipras und Varoufakis viel mehr Verständnis entgegengebracht als in der deutschen. In der «New York Times» richtet der redaktionelle Kommentar einen Appell an die Eurozone und den IWF, den Griechen endlich eine faire Chance einzuräumen und die Schuldscheine zu zerreissen. Der Kolumnist Paul Krugman – er hat für seine Arbeiten über den komparativen Vorteil den Nobelpreis erhalten – fordert die Griechen auf, Nein zu stimmen.
In der «Financial Times» wirft Gideon Rachman, zuständig für die Geopolitik, der EU unverantwortliches Handeln vor. Er schreibt: «Indem sie Griechenland und andere EU-Länder in ein gescheitertes wirtschaftliches Experiment sperrt – den Euro – zerstört die EU derzeit mutwillig Wohlstand, Stabilität und die europäische Solidarität.»
Warum sind die Deutschen trotzdem nicht bereit nachzugeben? Das hat zwei Gründe. Zum einen hat die Kanzlerin im Mai 2010 einen fatalen Fehler gemacht. Anstatt auf die Ökonomen zu hören, die ihr schon damals zu einem raschen Schuldenschnitt für Griechenland geraten haben, hat sie den Griechen ein Hilfspaket gewährt und gleichzeitig ihren Wählern versprochen, das Geld würde auf Heller und Pfennig zurückbezahlt werden.
Mit anderen Worten: Angela Merkel hat getreu der Devise der schwäbischen Hausfrau gehandelt. Die Griechen werden jetzt ihr Haus in Ordnung bringen, und alles wird gut. Ein Detail hat sie dabei unterschlagen: Die Hilfe ist keineswegs den Griechen zugute gekommen. Das Geld wurde nicht in griechische Strassen oder Unternehmen investiert. Es wurde fast vollkommen dazu verwendet, die Banken zu befriedigen. Aus privaten Schulden wurden öffentliche Schulden.
Merkels Rechnung ist nicht aufgegangen. Die unter der Fuchtel der Troika durchgesetzte Austeritätspolitik war ein Desaster. Das Haus wurde nicht in Ordnung gebracht. Im Gegenteil: Griechenland wurde erst Recht zum Chaoten. Auch die Geldpolitik der EZB konnte daran nichts ändern. Die Kanzlerin steht daher vor einem Scherbenhaufen: Sie müsste eingestehen, dass sie rund 70 Milliarden Euro sinnlos verbraten hat.
Der zweite Grund liegt im Wesen des Ordoliberalismus. Anders als die Angelsachsen akzeptiert die Mehrheit der deutschen Ökonomen die Trennung von Betriebs- und Volkswirtschaft nicht. Sie können daher auch nichts Schlimmes darin erkennen, dass die deutschen Exporte Jahr für Jahr zunehmen. Darin sehen sie einzig den Erfolg der Reformen, die mit der Agenda 2010 durchgeführt worden sind. Deshalb wiederholen sie gebetsmühleartig: Macht ebenfalls ein solches Fitnessprogramm – und alles wird gut.
Über ihre Exporterfolge lassen die Deutschen – mit Ausnahme von wenigen besonnenen Leuten wie Helmut Schmidt – nicht mit sich reden. Sie sind ihnen noch heiliger als der Fussballweltmeister-Titel. Varoufakis hingegen stellt genau diese Export-fixierte Politik in Frage und verstösst damit gegen ein Tabu. Dafür muss er nun büssen.
So wie es aussieht, werden sich Merkel und Schäuble wohl durchsetzen. Es könnte sich allerdings um einen Pyrrhus-Sieg handeln. Mit einem Grexit würde man zwar die widerborstigen Griechen los. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa hingegen bleiben.
Deshalb sind weitere Konflikte absehbar. Ob die Spanier angesichts einer Arbeitslosenquote von deutlich über 20 Prozent noch lange das Gefühl haben werden, tatsächlich auf einem guten Weg zu sein, wird sich spätestens bei den Wahlen im September zeigen. In Italien ist die EU-kritische «Fünf-Sterne»-Bewegung weiter auf dem Vormarsch. Und dass Frankreich auch nächstes Jahr die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen wird, darauf können Sie jetzt schon viel Geld wetten.
Kommt dazu, dass Deutschland mit seinem kompromisslosen Kurs gegen Griechenland alte Wunden aufreisst, Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Oder wie Helmut Schmidt sich ausdrückt: «Die Deutschen haben noch für viele Generationen Auschwitz im Gepäck.»