Jens Südkum, Wirtschaftsprofessor an der Universität Düsseldorf, bringt es auf den Punkt: «Die Schuldenbremse ist der grösste Fehler in der deutschen Wirtschaftspolitik seit 30 Jahren. Und das Dumme ist: Sie steht in der Verfassung, und wir werden sie nicht mehr los.»
Um diese harte Aussage des Ökonomen zu verstehen, müssen wir kurz in die Geschichte gucken.
Vor dem Ersten Weltkrieg beherrschte der Goldstandard die internationalen Devisenmärkte. Verkürzt ausgedrückt kann man sagen, dass dies eine extreme Form einer Schuldenbremse darstellte. Weil die einzelnen Währungen mit Gold gedeckt werden mussten, war den Nationalbanken der Gang zur Druckerpresse verwehrt.
Im Ersten Weltkrieg sind Deutschland, Frankreich & Co. schlafgewandelt, wie es der australische Historiker Clark in seinem Besteller darstellt. Das jahrelange gegenseitige Abschlachten mit Millionen von Toten war nicht vorgesehen, geplant war ein kurzer Hosenlupf. Deshalb war dieser Krieg auch ökonomisch nicht abgesichert und wurde folgerichtig mit der Druckerpresse finanziert.
In Deutschland war das wirtschaftliche Resultat eine verheerende Hyperinflation zu Beginn der Zwanzigerjahre. Grossbritannien, das gegen den eindringlichen Rat des bedeutendsten Ökonomen des letzten Jahrhunderts, John Maynard Keynes, den Goldstandard wieder einführte, bezahlte dies mit einer langjährigen Wirtschaftskrise.
So weit die Geschichte, nun zur Gegenwart:
Zu Beginn dieses Jahrhunderts ging es Deutschland wirtschaftlich schlecht. Ja, es löste gar zeitweise Italien als «kranken Mann Europas» ab. Hohe Arbeitslosenzahlen und hohe Staatsschulden weckten bei den Deutschen Angst vor einer neuerlichen Hyperinflation. Deshalb wurde 2009 die Schuldenbremse eingeführt, nach Schweizer Vorbild übrigens.
Für die Deutschen ging die Rechnung auf. Dank des Euro hatten sie eine schwache Währung und wurden bald «Exportweltmeister». Dank der Schuldenbremse war die Inflationsgefahr gebannt. Weniger Freude hatten die anderen Mitglieder von Euroland. Ihnen wurde von Deutschland nach der Eurokrise eine Austeritätspolitik aufs Auge gedrückt, die jahrelang ihre Wirtschaft abwürgte. Dass sich die Deutschen mit ihrer «schwarzen Null» im Staatsbudget brüsteten und ihnen Angela Merkel, die sinnbildliche sparsame schwäbische Hausfrau, als Vorbild unter die Nase rieben, hielten sie nicht wirklich für lustig.
Nach qualvollen Jahren sahen selbst die Deutschen den Unsinn ihrer Austeritätspolitik ein. Dann kam die Coronakrise und danach der Krieg in der Ukraine, welcher die Energiepreise explodieren liess. Mit einem normalen Budget war dies nicht mehr zu stemmen. Daher rief die Regierung den Notstand aus, der ihr erlaubte, die Schuldenbremse temporär ausser Kraft zu setzen.
Heute gilt es auch, die hochgesteckten Klimaziele zu erreichen, was zusätzliche und grosse finanzielle Mittel verschlingt. Der Krieg in der Ukraine macht auch eine massive Aufstockung des Verteidigungsbudgets nötig. Mit sogenannten Sondervermögen (fragt nicht) wurde daher ein weiteres Instrument geschaffen, das es ermöglicht, das starre Korsett der Schuldenbremse zu umgehen.
Zur Bekämpfung der Pandemie wurden deutlich mehr Kredite bewilligt, als effektiv nötig waren – rund 60 Milliarden Euro zu viel waren es konkret. Diese Gelder schlug die Ampelregierung dem Fonds zu, der zum ökologischen Umbau der Wirtschaft gebraucht wird. Wir sprechen hier beispielsweise von Zuschüssen für Thyssen, um «grünen Stahl» zu produzieren, aber auch von einer Zehn-Milliarden-Subvention für eine Intel-Chip-Fabrik in Sachsen. Die deutsche Wirtschaft hat sich bereits auf diese Subventionen eingestellt. Ohne sie kann sie die grüne Transformation nicht schaffen.
Die Ampelregierung und die deutsche Wirtschaft haben indes nicht mit dem Verfassungsgericht gerechnet. Dieses gab einer Klage der Opposition statt, welche das Umbuchen der Corona-Kredite als Trickserei, ja gar als Betrug gebrandmarkt hat. Rein juristisch gesehen ist das nicht ganz falsch, wirtschaftlich und politisch gesehen ist dieses Urteil jedoch verheerend.
Es zwingt die Ampel-Regierung, die zum Teil bereits ausgegebenen 60 Milliarden Euro neu zu verbuchen oder nachträglich den Notstand zu verlängern. Das ist möglich, jedoch vor allem bei der FDP unbeliebt. Anders als die Sozialdemokraten und die Grünen befürworten die Liberalen die Schuldenbremse. Zudem muss auch der Haushalt für das kommende Jahr völlig umgekrempelt werden.
Dabei gibt es nur schlechte Lösungen: Steuererhöhungen werden von der FDP kategorisch abgelehnt. Die Sozialausgaben zu kürzen – zur Diskussion stehen das neue Bürgergeld und Kinderzulagen – sind bei den Sozialdemokraten ein No-Go. Die Grünen schliesslich beharren darauf, dass der grüne Umbau der Wirtschaft weitergehen muss.
Der Rückfall der Deutschen in den Sparmodus ist schwer verständlich. Um ihren Green New Deal zu finanzieren, lassen beispielsweise die Amerikaner ein Staatsdefizit von sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu – weit mehr als die Deutschen. Zudem liegt die Höhe der gesamten deutschen Staatsschulden bei rund 60 Prozent des BIP – deutlich unter der amerikanischen. Auch die Franzosen erfreuen sich trotz einer deutlich höheren Staatsquote und zum Neid der deutschen Wirtschaftsbosse einer brummenden Wirtschaft.
Wollen sie nicht abgehängt werden, brauchen die Deutschen dringend Investitionen in ihre Infrastruktur und in ihr Bildungswesen, denn sie haben diese Ausgaben während Jahren sträflich verschlampt. In diesen Bereichen zu sparen, wäre gewissermassen ein Selbstmord aus Furcht vor dem Tod.
Die Sozialausgaben zu kürzen, ist ebenfalls keine gute Idee. Will man wirklich auf Kosten der Ärmsten wieder das fragwürdige Ziel einer «schwarzen Null» anpeilen? Zu den moralischen gesellen sich auch politische Bedenken. Ein ökologischer Umbau der Gesellschaft ist nur möglich, wenn auch die unteren Schichten mitgenommen werden. Spätestens seit den Protesten der französischen Gilets jaune gehört diese Einsicht zum politischen Grundwissen.
Eine «schwarze Null» im Staatsetat, ein ökologischer Umbau der Wirtschaft und ein vernünftiger Sozialstaat lassen sich nicht unter einen Hut bringen – es sei denn, man greift zu politisch toxischen Mitteln wie Steuererhöhungen oder Kürzung der Sozialausgaben. Streng juristisch gesehen mag das Verfassungsgericht korrekt entschieden haben. Doch es tut damit niemandem einen Gefallen – am wenigsten Deutschland selbst.
P.S: Und was ist nun mit der Schuldenbremse in der Schweiz? Wir sprechen hier von einer Huhn-oder-Ei-Diskussion. Konservative Volkswirtschaftler sehen in der Schuldenbremse einen bedeutenden Grund für die wirtschaftliche Prosperität der letzten Jahrzehnte. Man kann jedoch den Spiess auch umdrehen und sagen: Weil sich die Schweizer Wirtschaft – die übrigens anders zusammengesetzt ist als die deutsche (keine Autoindustrie) – seit der Jahrhundertwende in einem Dauerhoch befindet, können wir uns auch eine ökonomisch unsinnige Schuldenbremse leisten. Gleichzeitig müssen wir hoffen und beten, dass wir nicht in eine ernsthafte Wirtschaftskrise rutschen.
Dann klappt es auch mit den Schulden.