Wer den Nestlé-Hauptsitz in Vevey (VD) betritt, dem wird zuerst die Temperatur gemessen, und er bekommt einen Mundschutz. Auch Nestlé-Chef Mark Schneider trägt eine Maske, als er die Journalisten abholt. Sie wird erst im weiträumigen Sitzungszimmer abgelegt. Gleich drei Mineralwasserfläschchen stehen für jeden bereit: San Pellegrino, Henniez und Vittel. Natürlich kommt auch der Kaffee von Nestlé.
Nestlé produziert die Nespresso-Kapseln für die ganze Welt in drei Fabriken hier in der Nähe. Zwischenzeitlich gab es Lieferengpässe. Läuft der Betrieb jetzt wieder normal?
Mark Schneider: Wir mussten unsere Fabriken in Romont (FR), Avenches (VD) und Orbe (VD) in sehr kurzer Zeit coronasicher machen. Denn unser oberstes Ziel für den ganzen Konzern ist: Alle sollen mit einem guten Gefühl von Sicherheit arbeiten können. Die Massnahmen führten dazu, dass wir vorübergehend die Produktionskapazitäten etwas reduzieren mussten.
Darum der Mangel an Kapseln?
Mangel gab’s keinen, einfach etwas weniger Auswahl. Indem wir temporär weniger Varianten produzierten, konnten wir von den beliebtesten Kapseln dafür umso mehr herstellen. Inzwischen sind wir wieder nahe am Normalbetrieb. Ich habe mir die Situation vor Ort selber angeschaut, insbesondere um zu sehen, ob die Sicherungsmassnahmen funktionieren.
Abgesehen von diesen Fabriken konnten Sie wohl kaum Besuche an den Nestlé-Standorten in den fast 190 Ländern machen.
Ich habe die Schweiz seit Ende Februar nicht mehr verlassen. Wir haben damals, in einer frühen Phase, Reisebeschränkungen beschlossen.
Wann werden Sie wieder fliegen?
Wir haben die Reiserestriktionen bis Ende August verlängert. Ausnahmen sind in ganz wenigen Fällen möglich.
Es ist ein Klumpenrisiko, wenn Nestlé einzig an drei nahe gelegenen Schweizer Standorten herstellt.
Um zu verhindern, dass bei Infektionen gleich alle drei Fabriken betroffen sein könnten, haben wir den Verkehr zwischen ihnen komplett unterbunden. Ich bin stolz darauf, mit welcher Präzision dort gearbeitet wird – nicht nur, aber gerade in dieser extremen Situation. Das ist «Best of Switzerland».
Wäre es nicht sicherer, eine Fabrik in der Schweiz, eine in Asien und eine in Nordamerika zu haben? Ist eine solche Verlagerung ein Thema?
Im Gegenteil: Wir werden unsere Schweizer Standorte weiter ausbauen. Denn die Nachfrage geht nach oben. Und schauen Sie: Die schiere Qualität, mit der hier Milliarden von Kapseln hergestellt werden, ist unerreicht. Dann lieber zusätzliche Sicherheitsmassnahmen als eine Verlagerung.
Wie beurteilen Sie die Coronamassnahmen der Schweiz?
Die Schweiz hat einen klugen Mittelweg gewählt. Sie hat als eines der ersten Länder in Europa gehandelt und Grossveranstaltungen verboten. Aber sie hat nicht überreagiert – so verzichtete sie beispielsweise auf eine Ausgangssperre. Für unseren Hauptsitz bedeutete das, dass wir ebenfalls einen intelligenten Mittelweg wählen konnten. Dieses Gebäude blieb immer offen.
Wie viele Leute arbeiteten noch hier?
Am Hauptsitz beschäftigen wir normalerweise rund 2000 Mitarbeitende, zwischenzeitlich waren nur noch 150 bis 200 anwesend. Das hatte etwas Gespenstisches. Inzwischen sind es wieder deutlich mehr. Aber überall, von den Liften bis zu zur Kantine, wurde alles sicher gemacht. Ich gehe davon aus, dass wir ein bis zwei Jahre gewisse Massnahmen in Kraft haben werden, bis ein Impfstoff vorliegt.
Die Mitarbeiterin am Empfang sagte uns, man sehe Sie oft in der Kantine. Das ist für einen CEO eines Konzerns mit fast 300000 Mitarbeitern ungewöhnlich.
Ich esse und trinke wie jeder andere auch. Das Essen in der Kantine ist fein, und in der Coronazeit war es für mich auch wichtig, zu sehen, wie sicher der Betrieb läuft. Die Kantine ist ein neuralgischer Punkt.
Gemessen am Aktienkurs scheint Nestlé gut durch die Pandemie zu kommen. Die Aktie notiert nahe dem Allzeithöchst. Ist Nestlé ein Profiteur von Corona?
Nein. Gewünscht hat sich diese Situation niemand. Selbstverständlich ist es so, dass auch in einer Pandemie gegessen und getrunken wird und dass andere Branchen, etwa die Luftfahrt, schwerer getroffen wurden. Die Herausforderungen sind aber auch für uns sehr gross. Es könnte sehr vieles schiefgehen. Mit dem Privileg, von der Krise weniger hart getroffen zu sein, kommt auch eine Verantwortung für das Gemeinwesen, noch mehr als in normalen Zeiten.
Die Krise führte zu einem Boom des Online-Einkaufens. Was heisst das für Nestlé?
Im ganzen Konzern macht der Online-Verkauf etwa 10 Prozent aus. Die elektronischen Verkaufskanäle sind bei Lebensmitteln weniger wichtig als bei anderen Produkten, aber auch hier ist das Wachstum zurzeit sehr gross. Wir erlebten eine Zunahme um fast 30 Prozent. Viele Leute haben die Bequemlichkeit des Online-Shoppings schätzen gelernt; ich gehe davon aus, dass sich das Verhalten der Konsumenten über die Coronazeit hinaus verändern wird
Bei welchen Produkten?
Bei Lebensmitteln wird es immer eine Mischung aus digitalem und physischem Verkauf geben. Bei lagerfähigen Produkten, von Kaffeekapseln bis zur Tiernahrung, wird der Online-Anteil noch deutlich anwachsen.
Heisst das: Weniger Nespresso-Boutiquen an teuren Lagen?
Die Mischung aus Online und Boutiquen macht es weiterhin aus. Die Kunden möchten beides. Und bei Premium-Produkten wie Nespresso ist ein attraktiver physischer Standort auch wichtig, um sie richtig zu positionieren.
Sie haben Tierfutter erwähnt. Eines dieser Produkte soll helfen gegen Katzenallergie. Funktioniert das?
Ja, daran haben wir jahrelang gearbeitet und es durchgetestet. Das Problem bei Allergien ist ja nicht das Haar der Katze, sondern ihr Speichel daran, wenn sie sich sauber macht. In diesem Speichel befindet sich ein Protein, das die allergische Reaktion auslöst. Unser Futter vermindert die Ausscheidung dieses Proteins.
Damit wären wir beim Thema Gesundheit, das für Nestlé immer wichtiger wird. Wird Corona den Trend zu gesunder Ernährung beschleunigen?
Davon gehen wir aus, ja. Neu ist der Trend nicht. Je jünger, je besser ausgebildet, je kaufkräftiger die Konsumenten sind, umso mehr achten sie darauf. Nestlé arbeitet seit über 20 Jahren an diesem Thema. In dieser Zeit konnten wir den Gehalt an Zucker, Fett und Salz in den Produkten deutlich reduzieren – und viele davon mit Vitaminen und Nährstoffen zusätzlich anreichern.
Als eines der ersten Unternehmen hat Nestlé den Nutri-Score eingeführt, der den Nährwert eines Produkts bewertet. Über alle Zweifel erhaben ist das System aber nicht ...
Es gibt keinen Index, der alle Aspekte komplett abdeckt und gleichzeitig leicht verständlich ist. Jedes System hat seine Vor- und Nachteile, der Nutri-Score hat eine vernünftige Balance. Uns war klar, dass wir nicht warten wollen, bis die Politik eine Entscheidung trifft. Wir wollten rasche Transparenz. Der Leidtragende ist sonst der Konsument. Deshalb haben wir uns früh für den Nutri-Score ausgesprochen.
Sie setzen verstärkt auf Fleischersatz auf pflanzlicher Basis. Wird Nestlé Fleischprodukte eines Tages gänzlich verbannen?
Fleisch bleibt ein wichtiger Teil einer ausgewogenen Ernährung. Aber in der westlichen Welt haben wir einen ProKopf-Konsum, der deutlich über den Empfehlungen der Gesundheitsämter liegt. Pflanzenbasierte Produkte anzubieten für diejenigen, die das Fleischprodukt vom Geschmack, Biss und Erscheinungsbild her nicht vermissen möchten, halte ich deshalb für den richtigen Weg.
Ihr Vor-Vorgänger Peter Brabeck hat schon früh auf Gesundheitsthemen gesetzt, die seither stetig ausgebaut wurden. Doch im Geschäft mit Wasser verabschieden Sie sich von Brabecks Strategie.
Das würde ich nicht sagen. Ich bewundere, was Peter Brabeck und auch sein Vorgänger Helmut Maucher im Wassergeschäft aufgebaut haben. Jetzt geht es aber darum, sich dem veränderten Markt zu stellen. Erstens sehen wir, dass es beim tiefpreisigen, einfachen Wasser einen ganz anderen Wettbewerb gibt als früher, darum überprüfen wir dieses Geschäft. Zweitens sehen wir ein viel höheres Umweltbewusstsein bei den Konsumenten. Zum Thema Wasser stehen wir aber nach wie vor.
Ist es in Zeiten des Klimawandels nicht irrwitzig, ein Mineralwasser wie San Pellegrino aus Italien um den ganzen Erdball zu transportieren und anzubieten?
San Pellegrino ist eine Premiummarke. Hier will der Konsument den Geschmack einer bestimmten Quelle haben. Beim Wein hat auch niemand ein Problem damit, wenn er aus einem fernen Land kommt. Mit unserer neuen Wasserstrategie sprechen wir die drei ökologischen Hauptbedenken aber offen an: Verpackung, vernünftiger Umgang mit Wasser als Rohstoff und CO2-Neutralität bis 2025.
Nestlé steht immer auch in der Kritik, dass es Quellen zu stark abpumpt. Ein Beispiel ist die Quelle im vogesischen Dorf Vittel. Wie ist dort die Situation?
Dass wir mit Wasserquellen sorgfältig umgehen, ist uns sehr wichtig. Wir haben nicht das geringste Interesse daran, dass eine Quelle irgendwann austrocknet. Dort, wo die Wasservorräte beschränkt sind, arbeiten wir mit der Gemeinde zusammen, um sie zu ersetzen. Gemeinsinn lautet die Devise. Das ist auch in Vittel der Fall. Man muss sauber trennen, was die öffentliche Meinung ist, und was Nestlé tatsächlich tut.
Nestlé stand in der Vergangenheit unter heftigen Angriffen von Menschenrechts- und Umweltorganisationen. Kritik gibt es heute immer noch, aber es ist ruhiger geworden. Weil Sie Nestlé zu einer «guten» Firma machen wollen, die möglichst wenig Angriffsfläche bietet?
Ich würde sagen, dass wir im Kern eine «gute» Firma sind. Als weltgrösstes Unternehmen in der Branche werden wir aber immer eine Zielscheibe bleiben. Will jemand ein Thema setzen, ist es wirksamer, auf Nestlé zu zeigen, als mit unbekannten Firmen zu argumentieren. Dennoch hat es sicher das eine oder andere Thema gegeben, wo wir uns nicht dem Diskurs so gestellt haben, wie das gut und richtig wäre. Unsere inhaltlichen Ziele liegen oft gar nicht so weit von denen der Aktivisten entfernt. Die Differenzen bestehen darin, wie diese Ziele zu erreichen sind.
Zur Zielscheibe werden internationale Multis wie Nestlé auch bei der Konzernverantwortungsinitiative, die nun definitiv vors Volk kommt. Was würde eine Annahme für Nestlé und den Hauptsitz in der Schweiz bedeuten?
Die Anliegen der Initiative, Schutz der Menschenrechte und der Umwelt, sind uns sehr wichtig, da gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Auch hier geht es wieder um das «Wie». Dazu haben wir schon sehr früh auf zwei Dinge hingewiesen. Wir sind überzeugt, dass es der falsche Weg ist, Verstösse im Ausland vor schweizerischen Gerichten zu besprechen.
Und der zweite Kritikpunkt?
Noch problematischer ist die sogenannte Beweislastumkehr, welche die Initiative mit sich bringt. Sie stellt gut erprobte rechtsstaatliche Prinzipien der Schweiz auf den Kopf. Der Gegenvorschlag des Ständerats ist aus unserer Sicht vernünftiger und ausgewogener.
Wie würde Nestlé auf ein Ja zur Initiative reagieren?
Darüber möchte ich nicht spekulieren. Wir haben unsere Bemühungen, einen Kompromiss zu suchen, unter Beweis gestellt.
Wäre denkbar, dass Nestlé den Hauptsitz ins Ausland verlagern würde?
Wie erwähnt, möchte ich nicht über die Folgen einer Abstimmung spekulieren, die noch gar nicht stattgefunden hat.
Uns scheint, dass Sie vermeiden möchten, dass es heisst: Nestlé droht mit Wegzug!
Das Bekenntnis zur Schweiz ist keine Tagesaussage, sondern hat seit 154 Jahren Bestand. Deswegen halte ich es nicht für richtig, mit solchen Sachen zu drohen
Aber die Initiative hätte gravierendere Folgen als frühere Vorlagen, welche die Wirtschaft bekämpfte, wie etwa Steuer- oder Abzocker-Initiativen?
Es ist ein Thema, das wir sehr ernst nehmen.
Aber mein Nestlé-Framing kommt ja nicht von ungefähr. Kaffeekapseln die den Endverbraucherpreis ebenso vervielfachen wie die Ressourcenverschwendung.