Elektroautos haben in der Schweiz lange zugelegt, doch jetzt ist das Wachstum zum Stillstand gekommen. Findet gerade eine Trendwende statt?
Helmut Ruhl: Wir sind überzeugt, dass der Trend bestehen bleibt: Hin zur Elektromobilität. Dem elektrischen Antrieb gehört die Zukunft. Er ist nachhaltiger, hat den viel kleineren ökologischen Fussabdruck als ein Verbrenner – und er ist wirtschaftlicher: Im Unterhalt sind Elektroautos heute schon günstiger als Benziner und Diesel.
Die Anschaffung eines neuen Autos ist aber oft noch teurer.
Das ändert sich gerade. In hoher Schlagzahl kommen kleinere und günstigere Autos auf den Markt. Bei VW wird es gegen Ende 2025 ein Auto geben, das mit dem Polo vergleichbar ist und rund 25'000 Euro kosten wird, ein Jahr später ein weiteres Modell für 20'000 Euro. Skoda lanciert Anfang 2025 einen kleineren SUV, der für deutlich unter 40'000 Franken zu haben ist.
Wie erklären Sie sich, dass Elektroautos zuletzt Marktanteile verloren haben?
Zurzeit stockt die Nachfrage. Der Anteil neu verkaufter Elektroautos liegt bei 18 Prozent, vor einem Jahr waren es 19 Prozent. Das ist kein Einbruch, aber eine Stagnation, was unerfreulich ist, weil alle Hersteller mehr Modelle anbieten. Es ist zurzeit viel Verunsicherung im System. Das fängt damit an, dass nach dem Auslaufen der Elektroförderung in Deutschland dort die Elektroverkäufe massiv zurückgegangen sind. Das kriegen auch die Schweizer mit. Die Einführung der Importsteuer auf Elektroautos war in der Schweiz ebenfalls nicht hilfreich.
Bleibt Amag also bei ihrer Strategie und setzt voll und ganz auf elektrisch?
Ja. Es gibt schlicht keine Alternative, die an den Elektroantrieb herankommt. Alle Hersteller investieren in Elektromobilität. Wenn in unserer Branche neue Unternehmen entstehen, dann machen die Elektromobilität. Es gibt kein einziges relevantes Start-up, welches beispielsweise in Wasserstoffautos investiert. Der Trend ist klar, superklar. Aber es gibt noch viele Hausaufgaben zu erledigen.
Welche zum Beispiel?
Die meisten Elektroauto-Kunden sind Hauseigentümer. Sie können daheim laden. Wir haben immer noch keine Lösung für Stockwerkeigentümer und Mieter. Darum hoffen wir, dass die Motion von GLP-Präsident Jürg Grossen nach dem Nationalrat auch im Ständerat angenommen wird. Sie würde den Weg frei machen für eine Infrastruktur, die es braucht, um günstig und bequem laden zu können.
Insgesamt ist der Weg zum Elektroauto für Interessierte immer noch steinig.
Wir versuchen den Einstieg so einfach wie möglich zu machen. Für jene, die zögern, starten wir ein neues Angebot: Man kann bei Clyde ein Auto für drei Monate abonnieren, erst dann entscheidet man sich, eines zu kaufen, zu leasen oder weiterhin zu abonnieren. Egal, ob es ein Elektroauto, ein Plug-in-Hybrid oder ein Verbrenner ist, bekommt der Kunde 50 Prozent der Abogebühr zurückvergütet. Man kann sehr günstig und risikolos mal drei Monate elektrisch fahren und Erfahrungen sammeln - und sollten diese nicht wie gewünscht ausfallen, immer noch auf einen Verbrenner wechseln.
Das Laden der Batterie ist auch nicht ganz günstig, vor allem bei Schnellladestationen auf der Autobahn.
Auch hier werden wir aktiv. Spätestens Anfang 2025 bieten wir einen tiefen Ladetarif, sodass diejenigen, die viel auswärts laden müssen, wirklich günstiger unterwegs sind als mit Diesel oder Benzin. Im Vergleich spart man dann schnell mal 100 Franken pro Monat.
Das erste Auto ist für viele Leute ein Occasionswagen. Doch bei Elektroautos ist die Auswahl an Occasionen sehr bescheiden. Ist das im Interesse der Importeure, die lieber Neuwagen verkaufen?
Nein, wir wünschen uns einen funktionierenden Occasionsmarkt. Wir verkaufen Mobilität, es geht uns nicht einfach darum, Neuwagen abzusetzen. Es braucht Zeit, den Occasionsmarkt zu entwickeln, aber das kommt. Bei Verbrennern brauchte es Jahrzehnte, bis sich das Zusammenspiel zwischen Neu- und Occasionsmarkt etablierte. Bei Elektroautos wird das viel schneller gehen.
Je mehr Elektromobilität, umso grösser der Strombedarf. Begrüssen Sie, dass der Bundesrat den Weg für neue Atomkraftwerke freimacht?
Bei der Amag sind wir für Technologieoffenheit. Es sollte aber «first things first» gelten, das heisst: Wir müssen jetzt zubauen, um die im Stromgesetz vereinbarten Ziele zu erreichen. Ausserdem sollten wir Energien skalieren, die heute schon verfügbar sind.
Das heisst, Sie sind gegen neue AKW?
Ich halte es für nicht prioritär, über neue Kraftwerke zu reden, die erst in zwanzig oder dreissig Jahren ihre Wirkung entfalten.
So lange würde es nicht dauern. Es gibt Experten, die reden von acht bis zwölf Jahren.
Bei AKW der nächsten technologischen Generation dauert es sicher länger – die muss ja erst mal verfügbar sein. Zudem stellt sich die Frage der politischen Umsetzung. Die Schweiz schafft es oft nicht einmal, irgendwo ein Windrad zu installieren.
Ihre Autos sollen also nicht mit Atomstrom, sondern mit Solarstrom betankt werden?
Wir wollen spätestens 2040 netto Null erreichen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen wir auf jetzt verfügbare erneuerbare Energien, vor allem Photovoltaik. Deswegen haben wir Helion übernommen. Unser Ziel ist es, mindestens so viel Photovoltaik zuzubauen, wie die von uns verkauften Elektroautos benötigen.
Als Marktführer werden Sie somit zum Energieproduzenten?
35 Prozent der verkauften Elektroautos stammen von der Amag, das waren letztes Jahr – ich kenne die Zahl auswendig – 18'542 Wagen. Wir haben aber Strom zugebaut für fast 33'000 Elektroautos. Das ist der schnellste und günstigste Weg für die Schweiz, um zu dekarbonisieren.
Sie verkaufen immer noch viel mehr Verbrennungs- als Elektromotoren. Sind diese Käufer für Sie von gestern? Und müssen sie ein schlechtes Gewissen haben?
Überhaupt nicht. Wir sollten aufhören, den Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden. Damit kommt man nicht vorwärts. Besser ist es, Bock auf die Zukunft zu wecken!
Wenn ein Kunde in eine Amag-Garage kommt und Richtung Benziner schreitet: Versucht ihn dann der Verkäufer zu den Elektrowagen umzuleiten?
Die Entscheidung liegt beim Kunden. Wir informieren, machen eine Bedarfsabklärung. Aber wir bekehren niemanden. Die Ladeinfrastruktur ist ein Knackpunkt für viele Kunden, dafür habe ich volles Verständnis. Ich kann aber allen empfehlen, mal nach Norditalien zu fahren, da gibt es mittlerweile erstaunlich viele Ladestationen.
Wir führen dieses Interview in der Amag Academy in Lupfig. Hier geht es um Forschung und Bildung. Gibt es für junge Leute künftig noch genügend Arbeit, wenn die Elektroautos häufiger werden?
Wir können den Wandel nicht aufhalten. Technologien werden sich verändern, wie sie sich in den letzten 100 Jahren verändert haben. Wir haben hier 28 Millionen Franken investiert, um spezifische Fähigkeiten zu vermitteln. Wie repariert man die neuen Autos? Wie ist es mit den Hochvoltbatterien? Wir führen hier auch Managementschulungen durch.
Aber: Elektroautos sind weniger pannenanfällig und weniger unterhaltsintensiv.
Die Arbeit in den Garagen wird uns trotzdem nicht ausgehen. Das Auto hat mehr Module, das heisst: Wenn es mal einen Unfall hat, dann ist der Reparaturaufwand grösser.
Wird es ein Garagensterben geben?
Wir reden seit Jahrzehnten darüber, dass es eigentlich weniger Garagenbetriebe geben müsste. Was passiert? Es gibt zwar weniger autorisierte Markenbetriebe, weil die Marken hohe Anforderungen an den Auftritt vor Ort stellen. Dafür gibt es mehr kleinere Garagen. In der Summe werden sogar mehr Garagen gezählt als vor fünfzehn Jahren. Kunden schätzen die lokale Nähe, das dürfte so bleiben, auch wenn sich das Vertriebssystem extrem wandelt.
Der VW-Konzern ist in Deutschland ins Straucheln geraten. Ganze Werke könnten geschlossen werden. Verunsichert das das Amag-Personal, das von den VW-Marken lebt?
Es gab dazu auch Fragen von Mitarbeitenden. Die Verunsicherung schwindet, wenn man die Situation erklärt.
Was sagen Sie den Mitarbeitenden?
Volkswagen muss zurzeit Strukturveränderungen angehen, die der Konzern über viele Jahre nicht angehen musste – weil er in China in den letzten vierzig Jahren super erfolgreich war. Ich habe selbst dort gearbeitet. In Spitzenzeiten kam die Hälfte der Konzerngewinne der deutschen Hersteller aus China. Diese Gewinne überdeckten strukturelle Probleme in Deutschland.
Andere europäische Automarken sind fitter als VW.
Bei den französischen und italienischen Herstellern konnte nichts überdeckt werden, denn die waren und sind nicht erfolgreich in China. Sie spürten den Druck deshalb viel früher als die deutsche Autoindustrie. Ich bin jedoch sehr zuversichtlich: Volkswagen hat einfach herausragende Produkte.
Aber die Chinesen bauen auch immer bessere Autos. Könnten sie Europa erobern?
Sie werden es versuchen. Im Moment zahlen sie erst mal Lehrgeld, weil es dann doch nicht ganz so einfach ist, wie man sich das in Shenzhen und Shanghai gedacht hat. Um in der Autobranche erfolgreich zu sein, braucht es mehr als ein halbwegs vernünftiges Auto. Chinesische Wagen haben auch Defizite. Sie laden zum Beispiel in der Regel langsamer als unsere. Zudem fehlt eine echte Marke – und ein Handels- und Servicenetz. Schauen Sie, in China gibt es über 100 Automarken. So viele braucht kein Mensch.
Zurück in die Schweiz. Der Bundesrat will autonomes Fahren schon ab 2025 möglich machen. Fahren ohne Hand am Lenkrad: Was heisst das für Amag?
Für uns ist das ein wichtiges Thema. Hier werden wir Angebote anbieten können. Im Kanton Zug bündeln Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ihre Kräfte, um die Herausforderungen rund um die Dekarbonisierung von Energie, Infrastruktur und Mobilität gemeinsam anzugehen. Zusammen haben wir die Zug Alliance gegründet. Ihr Ziel ist es, Energie und Mobilität schneller zu dekarbonisieren.
Das klingt noch reichlich abstrakt.
Es sollen vorerst drei Leuchtturmprojekte entstehen: Ein virtuelles Solarkraftwerk, ein Projekt, bei dem die bidirektionale Ladefunktion Teil der Stromversorgung von Überbauungen wird, und ein autonomes Ridepooling, verbunden mit Elektromobilität. Zug soll eine Pilotregion werden. Diesbezüglich kann man von den Chinesen lernen, das habe ich selbst erlebt: In einer Pilotregion, etwa Shenzhen, wurden Pilotzonen geschaffen, danach rollen sie das Konzept im ganzen Land aus. (aargauerzeitung.ch)