Netflix hat – trotz äusserst erfolgreichen Eigenproduktionen – zum ersten Mal seit zehn Jahren Abonnenten verloren. Wie ernst ist die Lage für das Unternehmen?
Es ist kein Drama. Netflix hat «lediglich» etwa 200'000 Abonnements eingebüsst. Bei über 200 Millionen zahlenden Haushalten ist das ein sehr geringer Anteil.
Der Rückzug von Netflix aus Russland hat Netflix aber offenbar schwer getroffen.
In Russland hat Netflix gut 700'000 Abos verloren, das ist schon viel. Auch in anderen Ländern sind Kunden abgesprungen, dafür steigt die Zahl der Netflix-Abonnenten in Asien kontinuierlich. Tatsächlich hätte man unter dem Strich Abos hinzugewonnen, wenn Russland nicht gewesen wäre.
Auch Netflix betont, die russischen Abonnenten spielten eine grosse Rolle für den Verlust. Welche anderen Gründe sehen Sie noch?
Das Ende der Corona-Massnahmen hat bestimmt einen gewissen Einfluss. Die Pandemie war massgeblich daran beteiligt, dass sich Streamingdienste wie Netflix, Disney Plus und Amazon richtig etablieren konnten. Es könnte also sein, dass man jetzt zum Sommer hin etwas müde wird vom eigenen «Corona-Verhalten», wo ja auch das «Netflixen» dazugehört. Gut möglich, dass jetzt einige ihr Netflix-Abo künden – und dann vielleicht wieder im Herbst oder Winter weitermachen.
Netflix geht aufgrund der starken Konkurrenz davon aus, auch im laufenden Vierteljahr Abonnenten zu verlieren.
Die Konkurrenz ist ein riesiges Thema im Streamingdienst-Markt. Man muss sich bewusst sein: Exklusive Inhalte gegen Bezahlung kommen bei Kunden grundsätzlich schlecht an. In Nordamerika ist das System noch eher bekannt durch Pay-TV-Angebote. Aber in Europa – und insbesondere im deutschsprachigen Raum mit den vielen Gratis-Sendern – ist man sich das nicht gewohnt. Die Frage ist deshalb, wie die Kundinnen und Kunden damit umgehen, dass sie gewisse Inhalte exklusiv auf einer bestimmten Streamingplattform zu sehen kriegen.
Das heisst?
Die Frage ist: Ist man bereit, dafür zu zahlen – und wenn ja, wieviel? Und: Ist man zusätzlich bereit, für mehrere Streamingdienste gleichzeitig zu bezahlen?
Wer ist denn derzeit die grösste Konkurrenz für Netflix? Und hat diese so stark zugenommen?
Die Hauptkonkurrenten sind meines Erachtens Disney Plus und Amazon, ausserdem Apple TV Plus und noch Hulu in den USA. Dann kommt noch die regionale Konkurrenz dazu. Ausserdem fordern jetzt immer mehr TV-Sender Netflix mit ihren Mediatheken heraus. Einige sind gratis, wie zum Beispiel bei den Sendern ARD und ZDF oder Play Suisse, eine Plattform der SRG. Und Privatsendergruppen wie Pro Sieben, Sat.1 oder RTL haben jetzt in Deutschland ihre eigenen, kostenpflichtigen, Plattformen.
Was ist die Folge?
Der Erfolg von Netflix hat dazu geführt, dass jetzt alle Unternehmen, die irgendeine Form von Video-Content besitzen, diesen auch monetarisieren wollen. Und das führt zu stärkerer Konkurrenz. Ausserdem versuchen Disney Plus und Amazon Netflix mit exklusiven Originals zu kopieren. Aber trotz allem: Netflix ist und bleibt «der König» unter den Anbietern.
Welche Optionen hat Netflix, um den Markt weiter «abzugrasen»?
Es gibt ganz viele Möglichkeiten. Allerdings ist das immer eine Gratwanderung: Neue Kundinnen und Kunden zu gewinnen – und gleichzeitig möglichst viele bestehende zu behalten, das ist nicht einfach. Das Ziel von Netflix ist, dass die Kunden möglichst ein Abo nutzen, mit dem Netflix möglichst viel verdient. Bei jeder Massnahme muss man überlegen: Wie reagieren bereits bezahlende Kunden?
In Chile, Peru und Costa Rica testet Netflix bereits Modelle, um den Gürtel bei den geteilten Abonnementen enger zu ziehen. Welche Massnahmen könnte Netflix noch einführen?
Netflix hat zum Beispiel klar gemacht, dass man jetzt mit der Idee von Werbung auf der Plattform spielt. Da sind verschiedene Varianten denkbar: Man könnte eine Version mit Werbung und eine ohne, die dafür dann mehr kostet, anbieten. Oder man könnte eine Gratisversion anbieten, die dafür Werbung zeigt und gewisse Beschränkungen im Angebot oder der verfügbaren Zeit beinhaltet.
Gibt es weitere Möglichkeiten?
Netflix könnte komplett neue Modelle testen, etwa spezifische Serien zur Vermietung oder zum Kauf anbieten. Da bezahlt die Kundin beispielsweise zehn Franken und hat lebenslang Zugriff auf diese Serie. Der Vorteil dabei: Man hat immer noch eine Kundenbeziehung, auch wenn das keine Einnahmen mehr generiert. Man könnte auch Tagespässe oder Abos mit älteren Produktionen anbieten. Das sind alles Überlegungen, die sich grundsätzlich jeder Streamingdienst machen kann – und wohl auch wird.
Was wird denn für Netflix entscheidend in den kommenden Monaten?
Bei Netflix geht es konkret darum, verschiedene neue Kundensegmente anzusprechen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Netflix auch Partnerschaften eingeht. In anderen Branchen wie zum Beispiel bei Mobilfunk-Anbietern ist das weit verbreitet. So bietet Swisscom Handy-Abos unter den Marken von Migros und Coop an. Netflix wird aber behutsam mit neuen Modellen umgehen, um keine Kunden zu verärgern. Wichtig zu wissen ist aber: Neue Modelle macht man in der Regel erst, wenn man davon ausgeht, dass der Markt gesättigt ist. Allerdings dürfte das kaum in den kommenden Monaten passieren, eher in den kommenden Jahren. Und in der Schweiz dürfte Netflix solche Modelle eher spät einführen.
Und? Ist der Markt gesättigt? Oder gibt es für Netflix noch Anteile zu holen?
Das ist wahnsinnig schwierig zu beurteilen. In den 90er-Jahren kamen die Internet-Abos in der Schweiz auf. Die Diskussion war stets, wie viele Menschen das Internet überhaupt nutzen werden. Heute nutzen fast alle Menschen in der Schweiz das Internet. Das ist eine sehr grosse Sättigung, die nicht erwartet worden ist. Bei Streamingdiensten muss man sich bewusst sein, dass viele nicht bereit sind, dafür zu bezahlen. Deshalb ist 100 Prozent natürlich nicht möglich bei Streamingdiensten – zumindest so lange sie kostenpflichtig sind.
Welcher Marktanteil ist denn realistisch?
Um eine Marktsättigung abzuschätzen, müsste man die Bereitschaft der Konsumenten kennen. Eine Studie von Moneyland hat letztes Jahr gezeigt, dass 39 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer für ein Netflix-Abo bezahlen (zusätzlich nutzen 15 Prozent Netflix gratis). Das ist schon sehr viel und könnte nahe an einer Sättigung sein. Über 50 oder gar 60 Prozent zu erreichen, wäre sehr schwierig. Aber Netflix wird das auf jeden Fall versuchen müssen.
Stichwort Preiserhöhung, auch im Zusammenhang mit der Angst über die Annahme von «Lex Netflix» – Was schätzen Sie, wie käme eine solche in der Schweiz an?
Es gab schon mehrere Male eine Preiserhöhung in der Schweiz. Trotzdem haben kaum Nutzerinnen und Nutzer gekündigt. Bei weiteren Erhöhungen glaube ich, ein paar wenige werden künden, aber unter dem Strich würde sich das monetär lohnen für Netflix. Die Schweiz ist ja überhaupt nicht preissensitiv. So ist zum Beispiel vierlagiges Toilettenpapier in der Migros und im Coop massiv teurer als bei Aldi und Co. – und trotzdem kaufen es viele dort. Dabei handelt es sich noch um ein sehr einfach austauschbares Gut. Gewisse Filme und Serie sind aber nicht austauschbar – also dürfte es Netflix umso einfacher haben.
Das Argument mit dem Supermarkt finde ich unpassend. Klar gibt es immer irgendwo ein Produkt günstige als da wo ich gerade einkaufe. Aber es gibt auch so etwas wie Zeitaufwand, was man auch in Geld ausrechnen kann. Wg. 2 Franken Differenz renne ich nicht durch die ganze Stadt.