Die Schweiz könnte zurückkehren zur Vor-Corona-Normalität. Damals war die Inflation in vielen Jahren negativ und die Schweizerische Nationalbank (SNB) musste mit einem Leitzins von minus 0,75 Prozent dagegen ankämpfen. Erst Corona brachte die Inflation zurück und damit die Befreiung aus der verkehrten Welt negativer Zinsen.
Nun droht ein Rückfall. Vor diesem Risiko warnt die Bank J. Safra Sarasin in einem neuen Bericht. Chefökonom Karsten Junius sagt auf Anfrage, die Inflation sei heute schon besorgniserregend schwach. Es dürfe nicht mehr viel passieren, sonst falle sie zurück unter die Null-Prozent-Linie und die SNB wäre zum Handeln gezwungen. «Sie müsste zu sehr niedrigen Leitzinsen greifen – eventuell sogar zu negativen.»
Heute schon ist die SNB laut Junius auf Kurs zu Leitzinsen, die im historischen Vergleich sehr niedrig sind.
Seit dem Inflations-Hoch während Corona hat sie bisher zwei Senkungen vorgenommen und ist damit bei einem Leitzins von 1,25 Prozent angelangt – also noch ein Stück weit entfernt von der ominösen Null-Linie. Doch laut Junius ist mit drei weiteren Leitzins-Senkungen zu rechnen, und dies in rascher Abfolge.
An jeder der nächsten drei geldpolitischen Lagebeurteilungen – Ende September, im Dezember und im März 2025 – wird es gemäss Junius jeweils um einen Viertelprozentpunkt hinuntergehen. Danach wird noch ein Leitzins von 0,5 Prozent übrig – und die Null-Linie nicht mehr weit entfernt sein.
Schon im kommenden März, in knapp sieben Monaten, würde die Schweiz nur noch Leitzinsen von 0,5 Prozent haben – und darüber hinaus sind gar negative Leitzinsen nicht ausgeschlossen. Junius erklärt diese Vorhersage vor allem mit zwei Argumenten.
Die Inflation sei heute schon schwächer, als es den Anschein macht. Der Landesindex für Konsumentenpreise stand im August zwar um 1,1 Prozent höher als im Vorjahr. Demnach läge die Inflation «bequem» im Zielband der SNB von 0 bis 2 Prozent, sagt Junius. Doch schaue man genau hin, sei die Lage «besorgniserregender».
Das wird ersichtlich, wenn man die Mieten weglässt. Die übrig bleibenden Konsumentenpreise sind nicht um die «bequemen» 1,1 Prozent gestiegen, sondern um nicht einmal halb so viel, um «besorgniserregend» geringe 0,4 Prozent. Und dies ist, wie Junius sagt, schon «gefährlich nahe» an der Null-Prozent-Linie, der unteren Grenze des Zielbands der SNB.
Es hat einen simplen Grund, warum Junius die Mieten herausrechnet. Deren Anstieg wurde zu einem guten Stück von der SNB selbst verursacht, wenn auch ungewollt. Als die SNB noch die Inflation bekämpfte und dafür den Leitzins erhöhte, drückte sie landesweit das Zinsniveau hoch und damit den hypothekarischen Referenzzinssatz. Gemäss Mietrecht durften nun viele Hausbesitzer höhere Mieten verlangen – was zu einer höheren Inflation beitrug.
Doch der hypothekarische Referenzzinssatz wird nicht weiter steigen, im Gegenteil. Laut Experten könnte er bereits im Dezember wieder fallen, spätestens jedoch im März. Dann werden die Mieten noch weniger zur Inflation beitragen. Daher lässt Junius sie weg, wenn er die Entwicklung der Inflation einschätzen will.
Ein zweiter Grund, warum Junius mit niedrigen Leitzinsen rechnet, findet sich in den USA und in der Eurozone. Dort haben die Zentralbanken Fed und EZB höhere Leitzinsen als die SNB, hemmen so das Wirtschaftswachstum stärker und könnten viel weiter hinuntergehen. Im September könnte die Fed ein erstes Mal und die EZB ein zweites Mal die Leitzinsen senken, aber es wäre erst der Anfang. Indem sie ihre Zinsen senken, schwächen sie den Dollar und den Euro gegenüber dem Franken. Der Franken würde stark aufwerten.
«Wir müssen damit rechnen, dass der Aufwertungsdruck auf den Franken in den nächsten Quartalen zunimmt», sagt Junius deshalb. Diesem Druck werde die SNB begegnen müssen. Sie kann dafür ihrerseits ihren Leitzins senken. Oder sie kann in den Devisenmarkt eingreifen, also Euro kaufen und Franken verkaufen. Ihre gigantische Bilanz würde noch gigantischer. Oder sie macht beides, wie in der Vergangenheit auch schon. So oder so: Die anstehenden Zinssenkungen von Fed und EZB dürften die SNB zu sehr niedrigen Leitzinsen zwingen.
Das würde zwar Hypothekarschuldner freuen, sofern sie sich nicht für lange Zeit zu viel höheren Zinsen gebunden haben. Doch es brächte auch viele Nachteile mit sich – einer davon wäre laut Junius ein «extrem begrenzter Handlungsspielraum der Geldpolitik». Wenn eine Rezession ausbricht oder eine neue Eurokrise, hat die SNB nicht mehr allzu viel zu bieten. Es ist umstritten, wie weit unter die Null-Linie sie gehen kann, ohne ihrerseits eine Krise auszulösen.
Die SNB muss nun rasch und entschlossen handeln, sagt Junius. Sonst könne eine Deflationsspirale in Gang kommen. Dabei würde die Inflation unter die Null-Linie fallen und meist dortbleiben. Ist eine niedrige oder negative Inflation erst zur Normalität geworden, ist es zu spät: Die SNB würde ungleich mehr Mühe haben, die Inflation wieder dauerhaft über der Null-Linie zu etablieren.
Sinken die Konsumentenpreise im landesweiten Durchschnitt, kann dies fiese Folgen haben. Es bedeutet zum Beispiel, dass viele Betriebe die Preise senken müssen, damit andere Betriebe unter Zugzwang setzen und es weitere Preissenkungen gibt. Haben viele Betriebe einmal tiefere Preise, dann auch weniger Umsatz, und sie müssen ihre Kosten senken – auch die Lohnkosten. Löhne zu kürzen, ist ein gesellschaftliches Tabu, also entlassen die Betriebe gezwungenermassen Mitarbeitende. Tun das viele, steigt die Arbeitslosigkeit. (aargauerzeitung.ch)
Das gesparte Geld wird für die Amortisation und für den Kauf von weiteren Aktien eingesetzt