526 Bundesordner, 49 Kisten mit Material, acht Verhandlungstage: Der Prozess gegen den ehemaligen Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz, seinen Kompagnon Beat Stocker und fünf Mitangeklagte war ein Mammut-Verfahren. Jetzt ist das Ziel zumindest in erster Instanz in Sicht: Am Mittwoch um 8.30 Uhr wird das Urteil verkündet.
Als Richter Sebastian Aeppli am 22. März die Verhandlung im Zürcher Volkshaus fast zwei Monate nach dem Auftakt beendete, war die Erleichterung gross. Die acht Prozesstage mit stundenlangen Plädoyers und einem teilweise gehässigen Schlagabtausch zwischen Anklage und Verteidigern hatten Geduld und Nerven aller Beteiligten strapaziert.
Pierin Vincenz, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere als vermeintlich bodenständiger «Volksbanker» den grossen Auftritt liebte, nutzte die Gelegenheit für ein Schlusswort: Er habe in seinen 20 Jahren bei Raiffeisen Fehler gemacht und «manchmal übertrieben», räumte der 65-jährige Bündner ein. Er habe aber «nichts Unrechtmässiges» getan.
Es war absehbar, dass sich Vincenz diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde (die meisten Beschuldigten verzichteten auf ein Schlusswort). Sein Erscheinen vor Gericht nach jahrelangem Abtauchen war mit Spannung erwartet worden. Und der Ex-Banker enttäuschte nicht: Er war guter Dinge, trat selbstbewusst und kampflustig auf.
Für ihn steht einiges auf dem Spiel: Die Staatsanwaltschaft fordert für Vincenz und Stocker je sechs Jahre Gefängnis. Für vier der fünf Mitangeklagten werden je zwei Jahre Haft beantragt sowie in einem weiteren Fall eine Geldstrafe. Wie wird das dreiköpfige Zürcher Bezirksgericht entscheiden? Ein Rückblick auf die wichtigsten Anklagepunkte:
Der aus Sicht der Öffentlichkeit «süffigste» Bereich betrifft den grosszügigen Umgang von Pierin Vincenz mit seiner Firmenkreditkarte. Er nutzte sie für ausgiebige Besuche in Lokalitäten, die man dem Rotlicht-Milieu zurechnen kann. Ausserdem unternahm er Reisen bis nach Australien, unter anderem mit seinen Töchtern und seinem Koch-Club.
An pikanten Episoden fehlte es nicht. Dazu gehört ein Schäferstündchen in einem Zürcher Nobelhotel, das offenbar aus dem Ruder gelaufen war und mit einem demolierten Zimmer endete. Die Reparaturkosten verrechnete Vincenz der Raiffeisen, ebenso ein Nachtessen mit einem Tinder-Date, das er in der Einvernahme als «Bewerbungsgespräch» bezeichnete.
Überhaupt seien alle diese Ausgaben im Umfang von fast 600’000 Franken geschäftlich begründet, behauptete Vincenz. Er habe in mehr als 20 Jahren nie zwischen Ferien und Geschäft unterschieden. Überzeugen konnte er nicht, und auch sein Verteidiger, «Staranwalt» Lorenz Erni, argumentierte beim Anklagepunkt Spesen ziemlich defensiv.
Unbestritten ist, dass die Kontrollen bei Raiffeisen versagt hatten. Allerdings «tarnen» sich Striplokale oder Kontaktbars auf Belegen häufig mit belanglosen Bezeichnungen, damit Arbeitgeber oder Ehefrauen keinen Verdacht schöpfen. Und Straftaten lassen sich nicht mit fehlender Kontrolle rechtfertigen, ob bei Spesen oder bei Raserdelikten im Strassenverkehr.
Der umfangreichere und gewichtigere, aber auch kompliziertere Teil der Anklage betrifft die angeblichen «Schattenbeteiligungen» von Vincenz und Stocker an vier Unternehmen, die von Raiffeisen und der Kreditkarten-Firma Aduno (heute Viseca), bei der Stocker CEO war, übernommen wurden. Sie sollen laut Anklage 25 Millionen Franken eingestrichen haben.
Ausgangspunkt war die Zahlung von 2,9 Millionen Franken von Stocker an Vincenz über ein Konto bei der Bank Julius Bär, die von einem unbekannten Whistleblower dem Portal «Inside Paradeplatz» zugespielt wurde. Für die Anklage handelte es sich um den Erlös aus einer der Beteiligungen, für die Verteidiger um ein Darlehen für den Kauf eines Hauses in Morcote.
Um die angebliche Beteiligung an den vier Firmen Commtrain, Genève Credit & Leasing (GCL), Eurokaution und Investnet kam es zu einem schier endlosen Hickhack zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigern. Diese bezeichneten die Anklage als «Quatsch» und sprachen von Aktenverdrehung. Für ihre Klienten forderten sie vollumfängliche Freisprüche.
Tatsächlich beruht die Anklageschrift in erster Linie auf dem eingangs erwähnten Berg an Indizien. Handfeste Beweise konnten die Staatsanwälte kaum vorlegen. Die Verteidiger nutzten dies aus, indem sie deren Argumente bis ins kleinste Detail zerpflückten. Auch Beat Stocker hinterliess bei seiner Aussage einen sattelfesten und selbstbewussten Eindruck.
Für juristische Laien ist es nach acht langen Verhandlungstagen und angesichts der «zähen Materie» (O-Ton eines Verteidigers) nicht einfach, ein Urteil abzuschätzen. «Bei den Spesen könnte es eng für Vincenz werden», sagte der Freiburger Strafrechtler Marcel Niggli den Tamedia-Zeitungen. In diesem Punkt scheint eine Verurteilung denkbar.
Ins Gefängnis wird Pierin Vincenz jedoch kaum müssen. Wesentlich relevanter sind in dieser Hinsicht die angeblichen Firmenbeteiligungen, doch Niggli erachtet «die Beweislage als dünn». Einzig im Fall des Kartenterminal-Betreibers Commtrain gilt es als gesichert, dass Vincenz vor der Übernahme überhaupt an der Firma beteiligt war.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Staatsanwaltschaft die Latte mit Vorwürfen wie gewerbsmässiger Betrug und ungetreue Geschäftsbesorgung hoch gehängt hat. Trotz diesen Schwächen rechnet Niggli mit einer Verurteilung, weil Vincenz in Untersuchungshaft sass und der Staat bei einem Freispruch eine Entschädigung zahlen müsste.
Das ist keine Lappalie, denn Vincenz und Stocker waren 2018 mehr als 100 Tage in U-Haft. Der Anwalt Andreas Josephsohn, der den Raiffeisen-Prozess für «CH Media» verfolgt hat, hält Marcel Nigglis Einschätzung für «etwas provokativ, aber nicht ganz falsch». «Aber aus rechtsstaatlicher Sicht ist ein solches Urteil im Ergebnis natürlich hanebüchen.»
Eine Verurteilung einzig damit die Beschuldigten nicht noch Geld bekommen? Das wäre selbst für einen Laien fragwürdig und würde unweigerlich einen Weiterzug des Urteils auslösen. Aber vielleicht passt ein solches Ende zu dem in mancher Hinsicht denkwürdigen Verfahren. Und der Imageschaden für die Schweizer Wirtschaft ist so oder so angerichtet.