Die Arbeitslosenquote ist mit 2.6 Prozent wieder so tief wie vor der Pandemie. Es ist, als ob nichts gewesen wäre. Wie ist das möglich?
Boris Zürcher: Wir sollten nicht vergessen: Der Arbeitsmarkt war Anfang 2020 relativ robust und intakt, es gab keine fundamentalen Ungleichgewichte. Am 16. März wurde einfach der Stecker gezogen – und danach wurden all die wirtschaftlichen Massnahmen ergriffen, welche einen Zweck hatten: vorübergehend die bestehenden Strukturen zu erhalten. Das Virus sollte nicht zirkulieren, und auch die Menschen sollten nicht zirkulieren. Jetzt, da sich ein Ende der Pandemie abzeichnet, können wir eigentlich dort einsetzen, wo wir Anfang 2020 aufgehört haben.
Dennoch: Die Erholung kam doch schon enorm schnell?
Ja, so etwas haben wir noch nie gesehen. Auf den starken Einbruch folgt ein starker Aufschwung. Wobei, die Schweiz ist hier kein Sonderfall. Alle Länder verzeichneten gleichzeitig einen Einbruch, weil weltweit alles simultan heruntergefahren wurde. Und nun geht es simultan wieder aufwärts, weil auch die Lockerungen fast überall gleichzeitig erlassen werden. Es ist so, wie wenn alle gleichzeitig zum Ausgang rennen.
Sind wir denn jetzt wieder dort, wo wir Anfang 2020 waren oder hat es während der Pandemiejahre Verschiebungen gegeben im Arbeitsmarkt?
Es gibt im Schweizer Arbeitsmarkt vier grosse Trends, und diese haben sich während der Pandemie nicht verändert, diese gelten noch immer. Erstens ist da die demografische Entwicklung. Ich selbst bin 1964 geboren, das ist der geburtenstärkste Jahrgang im Schweizer Arbeitsmarkt. Ich bin ein Repräsentant der Babyboomer. 2029, also in sieben Jahren werde ich pensioniert – und mit mir ganz viele. Das ist eine grosse Herausforderung für den hiesigen Arbeitsmarkt: Wir nähern uns einer Knappheit – und das wiederum dürfte die Verhandlungsposition der Arbeitnehmenden stärken.
Das heisst: Die Löhne dürften steigen?
Der Lohn ist sicherlich ein wichtiger Faktor, aber nicht der Wichtigste. Die Menschen wollen heute eine Arbeit, die ihnen Freude macht, die Sinn ergibt, sie wollen einen Job mit guten Arbeitszeiten, mit Flexibilität – und mit einem bestimmten Anteil Ferien. Es ist das Gesamtpaket, das stimmen muss.
Wenn der Schweiz tatsächlich die Arbeitskräfte ausgehen, dann sollten die Unternehmen umdenken und sich mehr um ihre älteren Angestellten kümmern.
Natürlich, das liegt in ihrem ureigenen Interesse. Es ist nicht die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass die Unternehmen immer genügend Arbeitskräfte haben. Sie müssen selber in diese investieren – und als Arbeitgeber attraktiv bleiben. Aber ich möchte hier doch betonen: Das Risiko, arbeitslos zu werden, nimmt ab 50 drastisch ab.
Wer aber mit über 50 Jahren seinen Job verliert, hat mehr Mühe, einen neuen zu finden.
Das ist in der Tat so. Es ist mit 50 auch weniger einfach, sich auf eine neue Situation einzustellen, als mit 30 Jahren. Natürlich gibt es hier Probleme, aber sie werden überzeichnet. Und das ist nicht gut. Denn das führt dazu, dass es bei den über 50-Jährigen eine Art negative Selbststigmatisierung gibt, obwohl dazu objektiv kein Grund besteht.
Was sind die anderen drei Trends, die Sie angesprochen haben?
Da ist der Trend zur Tertiärisierung: Die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich nimmt am stärksten zu. Hinzu kommt der Trend zur Feminisierung, da immer mehr Frauen in den Arbeitsmarkt kommen. Und dann ist da noch der wirtschaftliche Strukturwandel, der Produktivitätsfortschritte ermöglicht ...
... und zu Stellenabbau führt.
Aber unter dem Strich gehen keine Stellen verloren. Im Gegenteil: Es werden jährlich netto 10’000 neue Stellen geschaffen. Natürlich verschwinden laufend Arbeitsplätze, aber es entstehen laufend neue. Alles ist immer in Bewegung, ohne dass wir es wirklich sehen. Es ist wie wann man zusehen will, wie das Gras wächst: Man sieht nichts, aber wenn man mal für ein paar Wochen verreist und zurückkommt, muss man den Rasenmäher auspacken. In der Schweiz, aber auch in allen anderen, westlichen Ländern sind immer rund 15 Prozent «on the move» im Arbeitsmarkt – betriebsintern, branchenintern und zu einem kleineren Teil auch branchenübergreifend. Wie erfolgreich respektive friktionslos dieser permanente Strukturwandel vonstatten geht, erkennen wir an der Arbeitslosenquote: Je tiefer diese ist, desto besser. Und in der Schweiz ist sie dank des flexiblen Arbeitsmarktes sehr tief.
In den letzten zwei Jahren hat sich aber wohl nicht viel bewegt.
Aufgrund der Pandemie herrschte auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich während zweier Jahre mehr oder weniger Stillstand. Die Unsicherheit war gross, keiner wusste wie es weitergeht, mehrmals glaubten wir, die Pandemie sei vorbei, sie ging aber weiter. Viele Arbeitnehmende hielten sich still, viel Unternehmen warteten ab mit Neuanstellungen. Letztlich bewegten sich nur jene, die regulär pensioniert wurden – ohne Abschiedsrituale, was sicher auch nicht einfach war.
Seit Jahrzehnten klagt die Industrie über fehlende Ingenieure. Heute klagen gar die Restaurants über einen Fachkräftemangel. Das ist neu.
Die Unternehmen haben nun alle gleichzeitig wieder angefangen, Personal zu rekrutieren. Es wird nachgeholt, was während zweier Jahre nicht gemacht wurde. Folglich kommt es auch zu Engpässen.
Dennoch: Wie kann sich das Gastgewerbe beklagen, dass es zu wenig Kellner gibt, wenn die Arbeitslosigkeit hier noch immer sehr hoch ist?
Das Gastgewerbe ist die klassische Einstiegsbranche: Wir stellen dort auch in normalen Zeiten eine enorm hohe Mobilität fest. Die Arbeitslosigkeit ist zwar überdurchschnittlich hoch, ihre Dauer aber auch überdurchschnittlich kurz. Und wenn jetzt hier ein grosser Personalmangel beklagt wird, dann hat das wohl auch geografische Gründe: Jene, die Arbeit suchen, leben oft nicht dort, wo die offenen Stellen sind.
Die Pandemie ist wohl vorbei. Ist denn die Arbeitslosenversicherung gewappnet für eine nächste Krise?
Ja. Die Arbeitslosenversicherung ist sogar so gut aufgestellt, dass wir wohl per 2023 das Solidaritätsprozent aufheben können.
Dieser Solidaritätsbeitrag, der auf Lohnbestandteilen erhoben wird, die über dem versicherten Jahreslohn von 148'200 Franken liegen, wurde 2011 eingeführt. Wieso soll er jetzt gestrichen werden?
Eingeführt wurde das Solidaritätsprozent nach der Finanzkrise, um die Schulden der Arbeitslosenversicherung abzubauen. So erhielt die Versicherung zusätzliche Einnahmen von rund 650 Millionen Franken pro Jahr. Doch bei der Einführung wurde auch festgelegt, dass das Solidaritätsprozent wieder abgeschafft werden muss, sobald die Arbeitslosenversicherung entschuldet und wieder solide aufgestellt ist. Das ist jetzt der Fall – natürlich auch, weil der Bund alle ausserordentlichen Ausgaben während der Pandemie übernommen hat, das heisst namentlich die Ausgaben für die Kurzarbeit. (aargauerzeitung.ch)
Wenn die Unternehmen in Weiterbildung und höhere Löhne investieren, ändert sich dann etwas?
Oder anders gefragt: was müsste "die Wirtschaft" denn tun, damit "die Wirtschaft" wieder genügend Fachkräfte hat?