Ein Interview in den CH-Media-Zeitungen mit Sucharit Bhakdi von der Universität Mainz und Karina Reiss von der Universität Kiel vom vergangenen Samstag hat Wellen geworfen. Das deutsche Forscherehepaar stellt im Interview ihre Sicht der Coronamassnahmen dar, welche die beiden in ihrem Buch «Corona Fehlalarm?» schon veröffentlicht haben.
Reiss' Universität Kiel hat sich mit einem offiziellen Statement vom Buch distanziert, weil es tendenziöse Aussagen enthalte, welche die wissenschaftliche Sorgfalt medizinischer Forschung in Deutschland und international in Frage stelle.
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Tatsächlich beziehen sich viele Aussagen im Interview auf Studien, die am Anfang der Pandemie gemacht wurden und deren Erkenntnisse inzwischen überholt sind. Zudem zeigt der Faktencheck, dass die beiden Wissenschafter in sich richtige Einzelaussagen mit anderen verknüpfen, was zu einem falschen Schluss führt.
Die Standard-Coronatests, die PCR-Tests, werden in der Schweiz laufend optimiert und validiert. Die gut validierten PCR-Tests haben in der Regel eine Spezifität von mehr als 99 Prozent. Das heisst, dass tatsächlich Gesunde im Test zu mehr als 99 Prozent auch als gesund erkannt werden.
Einzelne falsche Resultate können durch eine unkorrekte Handhabung des Tests entstehen. Die in Deutschland von Coronaskeptikern oft geäusserte These hat ihren Ursprung bei den ersten mangelhaften Covid-Tests Anfang der Krise in Deutschland.
Auf Hygiene- und Distanzmassnahmen zu verzichten, wäre nicht vernünftig. Über die Wirkung dieser Standard-Massnahme herrscht breiter Konsens. Diese wurden auch in Schweden eingehalten, wo keine strengeren Lockdown-Massnahmen durchgeführt wurden. Dass die Infektionszahlen trotzdem gesunken sind, wird genau darauf zurückgeführt, dass sich die schwedische Bevölkerung an die Hygiene- und Distanzmassnahmen gehalten hat.
Das Maskentragen muss differenzierter gesehen werden: An der frischen Luft und an Orten, wo sich Menschen nicht zu nahe kommen, gibt es keinen Beweis, dass Schutzmasken einen Effekt haben. Unbestritten ist aber, dass symptomfreie Menschen mit dem Virus im Körper ansteckend sein können, insbesondere kurz bevor die Ansteckung ausbricht.
Und weil Masken zumindest einen Teil der Viren zurückhalten, können Masken in Innenräumen im dauerhaften und nahen Kontakt mit anderen Personen Sinn machen. In einem voll besetzten Pendlerzug also mehr als beim Kurzaufenthalt in einem Laden.
Wenn man sich das Desinfektionsmittel in die Venen spritzt, wie das US-Präsident Donald Trump zum Schrecken seines Coronaberaters Anthony Fauci vorgeschlagen hat, dann schon.
Ansonsten sind Desinfektionsmittel in der Schweiz zulassungspflichtig und werden gemäss dem BAG auf mögliche gesundheitsschädigende Wirkungen untersucht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass man noch nicht von Langzeitschäden sprechen kann, bei einem Virus, das seit zehn Monaten kursiert. Aber nach Auskunft des Infektiologen Manuel Battegay, Chefarzt am Unispital Basel und dem Epidemiologen Marcel Tanner gibt es zumindest auch nach sechs Monaten durchaus noch Schäden bei rund 20 Prozent der schwer erkrankten Patienten, insbesondere bei beatmeten Patienten. Allerdings ist es auch so, dass sich viele der schwer Erkrankten vollständig erholen.
Studien über Langzeitfolgen sind im Gang. Pietro Vernazza, Chefarzt an der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St.Gallen, sagt dazu: «Nach wie vor stellen wir bei Covid-19 fest, dass der grösste Teil der Infektionen mild, oft unerkannt und ohne Folgeschäden abläuft. Doch es gibt wirklich schwere Verläufe, insbesondere bei Patienten, die Intensivpflege benötigten, welche auch lange anhalten können. Auch wenn diese Verläufe keine allgemeinen drastischen Präventionsmassnahmen rechtfertigen, darf man sie nicht bagatellisieren.»
Wissenschaftlicher Konsens ist eine Sterberate von 0.5 bis 0.7 Prozent. Bei der saisonalen Grippe liegt diese bei unter 0.1 Prozent. Die sogenannte Infection Fatality Rate gibt für eine Infektionskrankheit den Anteil der Todesfälle unter allen Infizierten an, inklusive jenen ohne Symptome.
Die aktuell wenigen Todesfälle haben damit zutun, dass sich vor allem Junge infizieren. Die durchschnittliche Sterberate von Covid-19 geht erst effektiv zurück, wenn wirksame Medikamente entwickelt sind und die Ärzte in der Behandlung dazulernen. Das ist teilweise bereits geschehen.
In der Schweiz gab es vor allem eine Übersterblichkeit von Personen ab 65 Jahren während der ersten Welle Ende März/Anfang April. Am meisten betroffen waren die Kantone Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Tessin, Waadt, Wallis. Seither ist die Übersterblichkeit nicht mehr zu beobachten.
Kinder müssen in Deutschland im ÖV und Läden ab sechs Jahren Masken tragen. In der Schule während des Unterrichts müssen momentan nur in Bayern Schüler ab der 5. Klasse eine Maske tragen. Andernorts sind Masken auf Schulfluren und in der Pause Pflicht. In der Schweiz gilt erst für Berufsschüler und Gymnasiasten in einigen Kantonen Maskentragepflicht.
Jedoch tragen mancherorts Kita-Betreuende oder Lehrer Masken. Philipp Ramming, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, sagt dazu: «Natürlich sind Masken für den Beziehungsaufbau nicht ideal. Aber es schadet den meisten Kindern nicht, es gibt viele andere Faktoren, die eine Beziehung unterstützten, wie adäquate Reaktionen, Zuhören und präsent sein können.»
Wenn man Masken in der Arbeit mit Kindern aber einführe, dann müssten zusätzliche Ressourcen geschaffen werden, um auf Kinder reagieren zu können, die damit Mühe hätten. Dass deswegen mehr Kinder oder Jugendliche in psychiatrischer Behandlung seinen, dazu sagt Ramming: «Davon habe ich keine Kenntnisse.»
Unbestritten ist, dass die Lockdown-Massnahmen schwere wirtschaftliche Schäden ergeben, die sich indirekt auch auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen auswirken. Verhaltensforscher Marc Höglinger vom Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW beobachtet die gesellschaftlichen Auswirkungen laufend. Welchen Schäden das Coronavirus aber angerichtet hätte, wenn wir keinen Lockdown gehabt hätten, sei schwierig zu schätzen.
Einerseits hätten wir auch so wirtschaftliche Auswirkungen gespürt, denn das Verhalten der Leute ändert sich mit der steigenden Ansteckungsgefahr. So hatte auch Schweden ohne Lockdown wirtschaftliche Einbussen. Andererseits gibt Höglinger zu bedenken, wäre die Pandemie um einiges schlimmer ausgefallen: mit mehr Todesfällen und mehr Belastung des Gesundheitswesens.
«Kurz gesagt: Tatsächlich schmerzen uns die Lockdown-Massnahmen in der Schweiz viel mehr als das Virus selbst - aber eben deshalb, weil die Pandemie in Schach gehalten wurde», sagt Höglinger. «Daraus zu folgern, ein Lockdown sei unnötig gewesen, wäre ein Fehlschluss», sagt Höglinger.
Dazu nimmt die Krebsliga Stellung. Professor Solange Peters, Vorstandsmitglied der Krebsliga und Chefärztin für medizinische Onkologie am Universitätsspital Lausanne sagt, sie bezweifle, dass das in der Schweiz der Fall war. Jedenfalls verzeichnete sie in ihrem Departement keine signifikanten Verzögerungen bei den onkologischen Behandlungen.