Es gibt Dinge, die möchtest du vielleicht lieber nicht wissen. Jedenfalls nicht so genau. Dazu könnte etwa die Lebensweise der Haarbalgmilben gehören. Wir stellen diese winzigen Tierchen aber trotzdem vor – zum einen, weil sie das Objekt einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Studie sind, zum andern aber auch, weil sie sich wunderbar dafür eignen, Ekelgefühle zu triggern. Falls du also weiterliest, darfst du dich danach nicht beklagen: Wir haben dich gewarnt!
Fangen wir gleich mit dem ekligen Teil an: Haarbalgmilben sind mikroskopisch kleine, nahezu durchsichtige Spinnentiere, die in deinen Haarfollikeln leben. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gross – wenn du schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hast, grenzt sie sogar an Sicherheit: Während Neugeborene noch unbefallen sind, liegt die Chance bei über 70-Jährigen praktisch bei 100 Prozent.
Die vorrangig von ihnen bewohnten Zonen sind Haarfollikel im Gesicht, den Wimpern und an den Brustwarzen, sie können aber auch auf der Zunge, den Knien oder in der Vorhaut vorkommen. In der Regel teilen sich zwischen zwei und sechs der Milben ein Haarfollikel. Die bis zu 0,4 Millimeter grossen, kegelförmigen Parasiten – im Schnitt erreichen sie eine Länge von 0,3 Millimetern – ernähren sich vom Sekret der Talgdrüsen in unseren Poren. Dabei kommen ihre stark hervorstehenden Mundwerkzeuge zum Einsatz.
Ausserhalb der Poren können die Tierchen nicht dauerhaft überleben. Dagegen bleiben sie eine Weile nach dem Tod ihres Wirts am Leben; gemäss Beobachtungen kann dies bis zu 14 Tage dauern.
Haarbalgmilben befallen Säugetiere; zwei Arten von ihnen besiedeln den Menschen: Demodex folliculorum und Demodex brevis. Beide sind harmlos, aber bei verstärktem Befall – etwa wenn der Wirt erkrankt oder sonst wie geschwächt ist – können sie auch Hautkrankheiten auslösen, sogenannte Demodikosen, die der Akne oder der Rosazea ähneln. Manchmal kommt es auch zu einer Infektion der Augenlider. In aller Regel verläuft das Zusammenleben mit den ungebetenen Gästen jedoch ohne Probleme.
Haarbalgmilben werden aktiv, wenn es dunkel wird. Dann verlassen sie den Schutz der Poren und bewegen sich auf der Suche nach möglichen Paarungspartnern zwischen den Follikeln. Wenn sie fündig werden, kommt es zu einem einzigartigen Paarungsvorgang: Da sich die Fortpflanzungsorgane – im Gegensatz zu anderen Milbenarten – auf dem vorderen Teil des Körpers befinden und zudem der Penis des Männchens vom Rücken aus nach vorn und oben ragt, muss sich das Männchen unter dem Weibchen in Stellung bringen. Beide halten sich während der Kopulation an einem menschlichen Härchen fest.
Haarbalgmilben leben gewissermassen wie die Maden im Speck. Sie müssen keine neuen Wirte finden, da sie praktisch immer von den Müttern an deren Kinder übertragen werden – vornehmlich beim Stillen, weil dabei die Temperatur und die Feuchtigkeit erhöht sind. In ihrem Lebensraum müssen sie weder Nahrungskonkurrenten noch Fressfeinde fürchten.
Das Leben in einem solchen Schlaraffenland, in dem der Talg wie Milch und Honig fliesst, hat Folgen: Die Hauttierchen haben sich zu einem reduzierten Organismus entwickelt, wie ein internationales Forschungsteam um Alejandra Perotti von der Universität Reading in England feststellen konnte. Die Forscher sequenzierten erstmals das Genom von Demodex folliculorum vollständig und konnten dadurch den genetischen Hintergrund von bestimmten Körpermerkmalen und Verhaltensweisen der Milben aufklären. Deren reduzierte genetische Ausstattung könnte gemäss der Studie ein Indiz dafür sein, dass sich die winzigen Tierchen auf dem Weg vom Parasiten zu einem echten Symbionten befinden.
«Wir haben festgestellt, dass diese Milben eine andere Anordnung von Genen für Körperteile haben als andere ähnliche Arten, weil sie sich an ein geschütztes Leben in Poren angepasst haben», erklärte Perotti in einer Mitteilung der Universität. «Diese Veränderungen in ihrer DNA haben zu einigen ungewöhnlichen Körpermerkmalen und Verhaltensweisen geführt.»
A new study on skin mites which live in our pores revealed the genetic reasons for their behaviour including mating on our faces at night. The research on Demodex folliculorum mites shows they've shed genes as they move towards becoming at one with humans.https://t.co/QmAdGA0VxE pic.twitter.com/8jf1vXOAk3
— Uni of Reading (@UniofReading) June 22, 2022
In der Tat haben die Haarbalgmilben im Lauf der Zeit als Folge ihrer isolierten Lebensweise auf unseren Körpern und der andauernden Inzucht immer mehr Gene eingebüsst und dazu auch die Anzahl ihrer Zellen reduziert. Im Zuge dieser «genetischen Reduktion» entwickelten sie sich zu extrem einfachen Organismen, deren Genom auf das Wesentliche beschränkt ist.
Die winzigen Beine etwa werden nur von drei einzelligen Muskeln bewegt. Und Demodex folliculorum verfügt über ein extremes Minimum an Proteinen: «Sie überleben mit einem minimalen Repertoire an Proteinen – der geringsten Anzahl, die je bei dieser und verwandten Arten beobachtet wurde», erläutert Alejandro Manzano Marín von der Universität Wien. Manzano Marín ist Co-Autor der Studie, die im Fachjournal «Molecular Biology and Evolution» veröffentlicht wurde.
Hot off the press! The #Demodex folliculorum genome: Ectoparasites becoming (beneficial/commensal?) #symbionts
— Alejandro Manzano Marín (@amanzanom) June 22, 2022
We seq. the #genome of the Human follicular mite and linked biol. feats. to gen. traits 1/nhttps://t.co/R2zVoRPfEj@BangorUni @UniofReading @DOME_Vienna @i2sysbio pic.twitter.com/pRMDnhrcix
Die Analyse des Milben-Erbguts konnte ausserdem den Grund für die nächtliche Aktivität der Achtbeiner klären: Sie haben während ihres genetischen Abbaus auch das Gen verloren, das für den Schutz vor UV-Licht zuständig ist – und dazu das sogenannte Zeitlos-Gen, das dafür sorgt, dass andere Organismen bei Tageslicht aufwachen. Stattdessen weckt sie das Melatonin, das wir nachts über die Haut abgeben und das sie über die Drüsensekrete aufnehmen, die ihnen als Nahrung dienen. Melatonin macht kleine wirbellose Organismen nachtaktiv.
Die Ergebnisse der Studie räumen obendrein mit der Annahme auf, Haarbalgmilben hätten keinen Anus. Auch watson hat dieses vermeintliche Faktum schon verbreitet – doch das Forscherteam hat jetzt nachgewiesen, dass die Milben sehr wohl über ein Organ verfügen, das ihren Kot regelmässig abgibt. Es wurde früher vermutlich aufgrund seiner geringen Grösse einfach übersehen.
Dieser Befund entlastet die Tierchen vom Verdacht, sie würden nach ihrem Tod mit dem während ihres kurzen Lebens angesammelten Kot für Irritationen der Haut sorgen. Möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall: Für Henk Braig von der Universität Bangor in Wales, Co-Autor der Studie, ist die lange Verbundenheit der Milben mit dem Menschen auch ein Anzeichen dafür, dass sie nützlich sein könnten. Etwa dadurch, dass sie die Poren in unserem Gesicht offen halten.
Eine weitere Annahme musste aufgrund der Forschungsergebnisse revidiert werden: Die Milben besitzen als Jungtiere weit mehr Zellen als im Erwachsenenstadium. Bisher ging man davon aus, dass parasitische Tiere die Zahl ihrer Zellen schon früh in der Entwicklung reduzieren. Dies ist für die Forscher ein Indiz dafür, dass die Haarbalgmilben sich von einem externen Parasiten zu einem harmlosen oder gar nützlichen Symbionten des Menschen entwickeln.
Für die achtbeinigen Winzlinge ist das allerdings ein riskanter Prozess. Da sie sich immer untereinander in derselben Population paaren, kommt es nur selten oder selbst nie zu einer genetischen Auffrischung. Daher häufen sich schädliche Mutationen mit der Zeit an. Auf dem Weg zu einer echten Symbiose mit dem Menschen droht den Haarbalgmilben aufgrund ihrer inzestuösen Lebensweise eine evolutionäre Sackgasse, die mit ihrem Aussterben enden könnte. So faszinierend diese Mitbewohner auch sind – manche Leute dürften es wohl kaum bedauern, wenn sie verschwinden würden.
Ahjösses! Milben leben in WGs!