Weite Gebiete in Sibirien, Alaska und Kanada sind mit Permafrost bedeckt. Doch die Klimaerwärmung, die in der Arktis deutlich stärker wirksam ist, lässt diese dauerhaft gefrorenen Böden immer mehr auftauen – mit gravierenden Folgen: Zuvor im Boden gebundene Treibhausgase wie Methan oder Kohlendioxid (CO2) können in die Atmosphäre entweichen und die Klimaerwärmung in einer Rückkopplung zusätzlich anheizen.
Der auftauende Boden gibt jedoch nicht nur Treibhausgase frei, sondern auch wie in einer Tiefkühltruhe konservierte Pflanzenreste und Kadaver von Tieren, etwa Wollhaarmammuts. Und in diesen mitunter erstaunlich gut erhaltenen Überresten finden sich winzige blinde Passagiere: uralte, bisher unbekannte Viren. Journalisten wie Wissenschaftler nennen sie gern «Zombie-Viren».
Einem Team um die französischen Forscher Jean-Marie Alempic und Matthieu Legendre von der Aix-Marseille-Universität ist es nun gelungen, 13 solche bisher unbekannten Viren in Permafrost-Proben nachzuweisen – und unter Laborbedingungen zu reaktivieren. Einer der Erreger, das Pandoravirus yedoma, ist das wohl älteste Virus, das bisher entdeckt wurde: Es dürfte gemäss rund 48'500 Jahre im Eis überdauert haben, wie die Wissenschaftler in ihrer im Fachjournal «Viruses» veröffentlichten Studie schreiben.
Es ist nicht das erste Mal, dass Zombie-Viren aus dem Permafrost nachgewiesen wurden. Schon 2014 gelang es einem französischen Forscherteam, das sogenannte Riesenvirus Pithovirus sibericum mithilfe einer Amöbe im Labor wiederzubeleben. Und 2017 reanimierten belgische Biologen zwei Viren, die im Kot eines verendeten Karibus entdeckt wurden. Sie waren laut den Forschern auch nach 700 Jahren im Eis noch intakt und infektiös.
A giant virus, named Pithovirus sibericum, was isolated from a >30,000-year-old radiocarbon-dated sample from from the Siberian permafrost in 2014 and was surprisingly found to be still infectious https://t.co/Mx2TC2JG8p pic.twitter.com/RSdeUCkPBu
— Massimo (@Rainmaker1973) March 24, 2020
Auch alle 13 jetzt neu entdeckten Zombie-Viren, die auch aus Proben vom Fluss Lena und der Halbinsel Kamtschatka stammten, waren infektiös: Sie konnten Amöben der Gattung Acanthamoeba castellanii infizieren. Diese dienen aus Sicherheitsgründen als Köder für die Erreger, da alle 13 Viren nur Einzeller befallen. Die untersuchten Viren gehören zu fünf Viren-Gattungen, die noch nicht offiziell vom International Committee on Taxonomy of Viruses aufgenommen wurden: Cedratviren, Pithoviren, Pacmanviren, Megaviren und Pandoraviren.
Sie alle sind Riesenviren, die grösser sind als etwa SARS-CoV-2, das Coronavirus. Sie weisen oft auch ein viel grösseres Genom auf – beim Tupanvirus, einem der grössten bekannten Viren, sind es beispielsweise 1,5 Millionen Basenpaare, während das Coronavirus mit 30'000 Basenpaaren auskommt. Riesenviren sind in der Umwelt weit verbreitet, in Meeren, Süsswasser und Böden. Auch im Permafrost sind sie oft zu finden.
Wie lange die Viren infektiös bleiben, können die Forscher noch nicht abschätzen. Sobald sie aus der Tiefkühltruhe des Permafrosts entweichen, sind sie den für sie ungünstigen Bedingungen im Freien ausgesetzt – UV-Licht, Sauerstoff und Wärme. Es komme auch darauf an, heisst es in der Studie, wie wahrscheinlich es ist, dass sie in der Zwischenzeit auf einen geeigneten Wirt treffen und diesen infizieren können.
Laut Studienleiter Jean-Marie Alempic könnten solche Viren aus dem auftauenden Permafrost eine gesundheitliche Gefahr darstellen. Man sehe «Spuren von vielen, vielen, vielen anderen Viren». Es bestehe das Risiko, dass sich darunter auch ein Virus befinde, dass dem Menschen gefährlich werden könnte. «Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob sie noch leben. Da die Amöben-Viren noch lebendig sind, gehen wir jedoch davon aus, dass es keinen Grund gibt, warum die anderen Viren es nicht sein sollten», stellt Alempic fest.
Wenn ein Virus aus dem Permafrost, mit dem Menschen seit Jahrtausenden nicht mehr in Berührung gekommen sind, freikommt, könnte unser Immunsystem nicht mehr ausreichend dagegen gewappnet sein. Allerdings räumt das Forschungsteam ein, dass die Studienlage bisher noch zu dünn sei, um belastbare Aussagen zu treffen. Die Risiken, die vom schmelzenden Permafrost ausgehen, müssten weiter erforscht werden.
Eine gewisse Entwarnung gibt Albert Osterhaus, Direktor des Research Center for Emerging Infections and Zoonoses an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. «Die Chance, dass solche Viren zu wirklich grossen Problemen führen, ist klein, aber niemals zu 100 Prozent abwesend», sagte er dem Südwestrundfunk (SWR). Vielmehr stellten lebende Wildtiere eine grössere Bedrohung dar, wie sich an Zoonosen wie etwa der Corona-Pandemie gezeigt habe. Das Coronavirus sprang vermutlich von einer Fledermaus auf den Menschen über.
Nicht nur Viren schlummern im Eis, sondern auch Bakterien. Die Wissenschaftler befürchten, dass beim Auftauen des Permafrosts auch bis zu 120'000 Jahre alte pathogene Mikro-Organismen freigesetzt werden könnten, die mit aktuellen Erregern verwandt sind. Sie denken dabei etwa an den Milzbranderreger Bacillus anthracis, Streptokokken oder auch Staphylokokken.
Die Befürchtung ist alles andere als ungerechtfertigt: Es gibt Anzeichen dafür, dass Sporen von Bacillus anthracis 2016 in Nordsibirien einen Milzbrand-Ausbruch verursacht haben. Der Erreger stammte aus alten Gräbern oder von Tierkadavern und wurde durch das Abtauen des Dauerfrostbodens in überdurchschnittlich heissen Sommern freigesetzt. Mehrere Menschen erkrankten. Auch örtlich begrenzte Rentier-Sterben könnten auf das Konto dieses Bakteriums gehen.
Allerdings können Bakterien – zumindest bisher – recht effektiv mit Antibiotika in Schach gehalten werden. Bei Viren ist das leider nicht so, wie ebenfalls die Corona-Pandemie gezeigt hat. Für jedes neue Virus müssen zuerst spezifische Impfstoffe und Medikamente entwickelt werden, die erst nach einiger Zeit verfügbar sind.