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So wollen Forschende Krebskranke vor dem Sterben bewahren

Neun von zehn Krebspatienten sterben an Metastasen – so wollen Forschende das verhindern

Krebsmedikamente sind darauf ausgerichtet, Tumore zu eliminieren. Gegen Prozesse, die zur Bildung von Metastasen führen, sind sie machtlos. Die Hoffnungen ruhen auf Medikamenten, die die bösartigen Zellhaufen zerstören, bevor sie Wurzeln schlagen.
21.02.2023, 21:53
Stephanie Schnydrig / ch media
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Von seiner grässlichsten Seite zeigt sich der Krebs, wenn man bereits glaubt, die Krankheit besiegt zu haben. Dann, wenn der ursprüngliche Tumor verschwunden ist, aber einige Krebszellen, denen die Therapie nichts anhaben konnte, aus ihrem Schlummerzustand erwachen. Der Krebs hat gestreut, sagt man im Volksmund, in die Leber, die Lunge, die Knochen oder ins Gehirn. In vielen Fällen ist die Erkrankung dann nicht mehr heilbar.

Ein Cluster von zirkulierenden Tumorzellen: Einigen von ihnen gelingt es, in das Gewebe einzuwandern und Metastasen zu bilden.
Ein Cluster von zirkulierenden Tumorzellen: Einigen von ihnen gelingt es, in das Gewebe einzuwandern und Metastasen zu bilden.Bild: Martin Oeggerli / Universität Basel

Neun von zehn Krebstoten sterben nicht am Primärtumor, sondern an den Tochtergeschwülsten. Liesse sich die Metastasierung unterdrücken, würden Krebserkrankungen viel von ihrem Schrecken verlieren.

Genau aus diesem Grund richten Forscherinnen und Forscher ihre Aufmerksamkeit zunehmend dem Nachweis von im Blutkreislauf zirkulierenden Krebszellen, die auf dem Weg sind, Metastasen zu bilden.

Herzmedikament könnte Zellhaufen sprengen

Nicola Aceto ist Biochemiker und Professor für molekulare Onkologie an der ETH Zürich und beschäftigt sich mit zirkulierenden Tumorzellen und deren Rolle für die Metastasierung, insbesondere bei Brustkrebs. In einer viel beachteten Studie warf er vor einigen Jahren die bis dahin gültige Lehrmeinung über den Haufen, die besagte, dass eine einzelne zirkulierende Tumorzelle die Saat für eine Metastase legen kann. Gemäss Aceto sind es nämlich nicht einzelne Zellen, sondern erst Zusammenschlüsse von bis zu fünfzig solcher Zellen, die zu einer Metastase heranwachsen können.

Diese Erkenntnis legt einen Angriffspunkt gegen die Metastasierung offen: Medikamente, welche die Cluster aufbrechen, würden die Metastasierung ausbremsen. Ein solches Medikament ist möglicherweise Digoxin, wie Aceto in Tierstudien beobachten konnte. Digoxin zählt zu den Wirkstoffen des Roten Fingerhuts, einer Giftpflanze, die in der chinesischen Medizin traditionell gegen Krebs eingesetzt wird. In der westlichen Medizin kommt Digoxin für die Behandlung von Herzrhythmusstörungen zum Einsatz.

Derzeit führt die ETH gemeinsam mit dem Universitätsspital Basel eine klinische Studie mit neun Brustkrebspatientinnen durch, um den Wirkmechanismus des Medikaments zu überprüfen. Dafür erhalten die Patientinnen, bei denen Zusammenschlüsse von zirkulierenden Tumorzellen identifiziert werden konnten, täglich eine an ihre Nierenfunktion angepasste Dosis Digoxin. Die Forschenden rechnen damit, die Resultate noch in diesem Jahr vorlegen zu können.

Dass Herzmedikamente aus der Wirkstoffgruppe der Digitalisglykoside, zu denen auch Digoxin gehört, die Überlebenschancen von Krebspatienten verbessern könnten, darauf wies bereits eine Studie von französischen Wissenschaftlern hin. Sie zeigten, dass Krebskranke, die neben einer Chemotherapie zusätzlich solche Herzmedikamente erhielten, eine durchschnittlich vierzig Prozent bessere Lebenserwartung aufwiesen als diejenigen, die nur eine Chemo erhielten. «Es ist plausibel», sagt Aceto, «dass die besseren Überlebenschancen auf die Zerstörung der Cluster von zirkulierenden Tumorzellen zurückzuführen waren.»

Welche Zellen sind die bösen?
In den USA hat die Arzneimittelbehörde FDA bereits Tests zugelassen, welche zirkulierende Tumorzellen und damit die aggressiven Geschwüre einiger Krebsarten identifizieren können. Doch die Tests würden noch nicht häufig eingesetzt, sagt Nicola Aceto. Ein Grund: Sie sind nicht immer zuverlässig, weil nur ein winziger Bruchteil der zirkulierenden Tumorzellen im Blutkreislauf überleben kann und es schafft, Metastasen zu bilden. Die bösartigen Zellen von den harmlosen auseinanderzuhalten, sei deshalb eine der grossen Herausforderungen für die Forschung. Das halten Aceto und sein Team in einer soeben publizierten Übersichtsarbeit im Fachblatt «Nature Reviews Cancer» fest. (sny)

Kommunikationskanal zwischen Zellen unterbrechen

Ein Krebsgeschwür kann aus Milliarden von Zellen bestehen, nur ganz wenige davon verlassen den Tumor und verwandeln sich in zirkulierende Krebszellen. Wieso dies manche Tumorzellen tun und welche Mechanismen dem zugrunde liegen, untersucht Ariel Ruiz i Altaba. Er ist Professor für Medizinische Genetik an der Universität Genf. Kürzlich haben er und sein Team herausgefunden, dass ausgerechnet Krebsbehandlungen den Prozess der Zellablösung begünstigen können. Genau genommen sind es die Therapien, die darauf abzielen, die Tumorzellen zu ersticken, indem ihnen Sauerstoff entzogen wird.

Dies deckt sich mit einer Studie der Forschungsgruppe um ETH-Professor Aceto, die zu einem ähnlichen Schluss kam: Ein Mangel an Sauerstoff begünstigt demnach die Ablösung von zirkulierenden Krebszellen aus dem ursprünglichen Tumor. Dies führe zu einer paradoxen Situation, sagt Aceto: «Wenn wir dem Tumor Sauerstoff zuführen, gibt es weniger Metastasen, aber der Primärtumor wächst schneller.» Das ist ein Dilemma, aus dem Ruiz i Altaba einen möglichen Ausweg entdeckt hat.

Der Genfer Professor entschlüsselte die genetischen Signaturen von pro-metastatischen Zellen in Tumoren von verstorbenen Krebspatienten. Im Fachblatt «Cell Reports» berichteten er und seine Forschungsgruppe, dass diejenigen Tumorzellen, die eine Krebsbehandlung knapp überleben, sich genetisch umprogrammieren und eine verheerende Kaskade in Gang setzen.

Diese beginnt damit, dass die umprogrammierten Zellen einen Zytokinsturm auslösen. Dies veranlasst benachbarte Tumorzellen dazu, sich in wandernde Zellen zu verwandeln. Und nicht nur das: Dadurch wird der Zytokinsturm weiter angetrieben und der Migrationsdrang der umprogrammierten Zellen verstärkt. «Der Zytokinsturm ist ein wichtiger Kommunikationskanal zwischen den Krebszellen», sagt der Genfer Professor. Wenn diese Signalübertragung gekappt werden könne, vermutet er, liesse sich die Metastasierung aufhalten. (aargauerzeitung.ch)

Lichtshow für Krebsmedikamente
Therapien gegen Krebs wie eine Chemotherapie greifen wachsende Zellen im Körper eher unspezifisch an und schädigen daher auch gesunde Zellen. Die sogenannten Photopharmakologie ist eine Hoffnung für die Entwicklung einer neuen Art von Medikamenten. Das Prinzip beruht darauf, dass sich die Wirkung des Medikaments dank eines eingebauten Moleküls gezielt ein- und ausschalten lässt, indem es mit Licht an der gewünschten Stelle aktiviert wird, beispielsweise im Tumorgewebe. Ein solches Medikament ist beispielsweise das Krebsmedikament namens Combretastatin A4, das derzeit in klinischen Studien getestet wird. Eine Forschungsgruppe des Paul Scherrer Instituts PSI hat nun auf atomarer Ebene und auf eine Zehntelbillionstel Sekunde genau den Prozess nach dem Ausschalten des Wirkstoffs aufgezeichnet, wie das PSI mitteilte. Die im Fachblatt «Nature Communications» veröffentlichten Erkenntnisse sollen dazu beitragen, photopharmakologische Medikamente zu optimieren. (sny)
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5 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Biindli
21.02.2023 22:18registriert Oktober 2015
Euer Titel ist nicht richtig. Es sterben nicht 9 von 10 Krebspatienten an Metastasen, sondern 90% der Krebstoten.
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Allgood
21.02.2023 23:09registriert Juli 2016
Danke für diesen interessanten Artikel und viel Kraft für all diejenigen, welche aktuell von dieser furchtbaren Krankheit betroffen sind, sei es direkt oder in ihrem Umfeld.
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