Von seiner grässlichsten Seite zeigt sich der Krebs, wenn man bereits glaubt, die Krankheit besiegt zu haben. Dann, wenn der ursprüngliche Tumor verschwunden ist, aber einige Krebszellen, denen die Therapie nichts anhaben konnte, aus ihrem Schlummerzustand erwachen. Der Krebs hat gestreut, sagt man im Volksmund, in die Leber, die Lunge, die Knochen oder ins Gehirn. In vielen Fällen ist die Erkrankung dann nicht mehr heilbar.
Neun von zehn Krebstoten sterben nicht am Primärtumor, sondern an den Tochtergeschwülsten. Liesse sich die Metastasierung unterdrücken, würden Krebserkrankungen viel von ihrem Schrecken verlieren.
Genau aus diesem Grund richten Forscherinnen und Forscher ihre Aufmerksamkeit zunehmend dem Nachweis von im Blutkreislauf zirkulierenden Krebszellen, die auf dem Weg sind, Metastasen zu bilden.
Nicola Aceto ist Biochemiker und Professor für molekulare Onkologie an der ETH Zürich und beschäftigt sich mit zirkulierenden Tumorzellen und deren Rolle für die Metastasierung, insbesondere bei Brustkrebs. In einer viel beachteten Studie warf er vor einigen Jahren die bis dahin gültige Lehrmeinung über den Haufen, die besagte, dass eine einzelne zirkulierende Tumorzelle die Saat für eine Metastase legen kann. Gemäss Aceto sind es nämlich nicht einzelne Zellen, sondern erst Zusammenschlüsse von bis zu fünfzig solcher Zellen, die zu einer Metastase heranwachsen können.
Diese Erkenntnis legt einen Angriffspunkt gegen die Metastasierung offen: Medikamente, welche die Cluster aufbrechen, würden die Metastasierung ausbremsen. Ein solches Medikament ist möglicherweise Digoxin, wie Aceto in Tierstudien beobachten konnte. Digoxin zählt zu den Wirkstoffen des Roten Fingerhuts, einer Giftpflanze, die in der chinesischen Medizin traditionell gegen Krebs eingesetzt wird. In der westlichen Medizin kommt Digoxin für die Behandlung von Herzrhythmusstörungen zum Einsatz.
Derzeit führt die ETH gemeinsam mit dem Universitätsspital Basel eine klinische Studie mit neun Brustkrebspatientinnen durch, um den Wirkmechanismus des Medikaments zu überprüfen. Dafür erhalten die Patientinnen, bei denen Zusammenschlüsse von zirkulierenden Tumorzellen identifiziert werden konnten, täglich eine an ihre Nierenfunktion angepasste Dosis Digoxin. Die Forschenden rechnen damit, die Resultate noch in diesem Jahr vorlegen zu können.
Dass Herzmedikamente aus der Wirkstoffgruppe der Digitalisglykoside, zu denen auch Digoxin gehört, die Überlebenschancen von Krebspatienten verbessern könnten, darauf wies bereits eine Studie von französischen Wissenschaftlern hin. Sie zeigten, dass Krebskranke, die neben einer Chemotherapie zusätzlich solche Herzmedikamente erhielten, eine durchschnittlich vierzig Prozent bessere Lebenserwartung aufwiesen als diejenigen, die nur eine Chemo erhielten. «Es ist plausibel», sagt Aceto, «dass die besseren Überlebenschancen auf die Zerstörung der Cluster von zirkulierenden Tumorzellen zurückzuführen waren.»
Ein Krebsgeschwür kann aus Milliarden von Zellen bestehen, nur ganz wenige davon verlassen den Tumor und verwandeln sich in zirkulierende Krebszellen. Wieso dies manche Tumorzellen tun und welche Mechanismen dem zugrunde liegen, untersucht Ariel Ruiz i Altaba. Er ist Professor für Medizinische Genetik an der Universität Genf. Kürzlich haben er und sein Team herausgefunden, dass ausgerechnet Krebsbehandlungen den Prozess der Zellablösung begünstigen können. Genau genommen sind es die Therapien, die darauf abzielen, die Tumorzellen zu ersticken, indem ihnen Sauerstoff entzogen wird.
Dies deckt sich mit einer Studie der Forschungsgruppe um ETH-Professor Aceto, die zu einem ähnlichen Schluss kam: Ein Mangel an Sauerstoff begünstigt demnach die Ablösung von zirkulierenden Krebszellen aus dem ursprünglichen Tumor. Dies führe zu einer paradoxen Situation, sagt Aceto: «Wenn wir dem Tumor Sauerstoff zuführen, gibt es weniger Metastasen, aber der Primärtumor wächst schneller.» Das ist ein Dilemma, aus dem Ruiz i Altaba einen möglichen Ausweg entdeckt hat.
Der Genfer Professor entschlüsselte die genetischen Signaturen von pro-metastatischen Zellen in Tumoren von verstorbenen Krebspatienten. Im Fachblatt «Cell Reports» berichteten er und seine Forschungsgruppe, dass diejenigen Tumorzellen, die eine Krebsbehandlung knapp überleben, sich genetisch umprogrammieren und eine verheerende Kaskade in Gang setzen.
Diese beginnt damit, dass die umprogrammierten Zellen einen Zytokinsturm auslösen. Dies veranlasst benachbarte Tumorzellen dazu, sich in wandernde Zellen zu verwandeln. Und nicht nur das: Dadurch wird der Zytokinsturm weiter angetrieben und der Migrationsdrang der umprogrammierten Zellen verstärkt. «Der Zytokinsturm ist ein wichtiger Kommunikationskanal zwischen den Krebszellen», sagt der Genfer Professor. Wenn diese Signalübertragung gekappt werden könne, vermutet er, liesse sich die Metastasierung aufhalten. (aargauerzeitung.ch)