Orcas fressen Weisse Haie nun auch vor Kalifornien – aber nur wegen dieses Organs
An der Küste Südafrikas wurden im Frühjahr 2017 fünf Kadaver von Weissen Haien angeschwemmt. Auffallend war, dass sie weitgehend unversehrt waren; allen aber fehlte die Leber, die herausgerissen worden war. Bald war klar, wer diesem grössten Raubfisch der Erde den Meister gezeigt hatte: Es waren Orcas, die Jagd auf die Haie machten und deren Leber als Leckerbissen frassen.
Die intelligenten Meeressäuger, die bei der Jagd oft kooperieren, wandten dabei eine spezielle Jagdtechnik an, mit der sie die Haie töten konnten, ohne ihre Gegenwehr befürchten zu müssen: Sie treiben ihr Opfer an die Oberfläche und drehen es mit einem Stupser gegen die Brustflosse auf den Rücken. Wenn Haie in diese Position geraten, löst dies bei ihnen einen tranceartigen Zustand aus, der als tonische Immobilität bekannt ist. Die Orcas reissen dann die Leber aus dem Körper und lassen den sterbenden Hai treiben.
Mittlerweile ist sogar ein Orca beobachtet worden, der einen jungen Weissen Hai allein erlegt hat. Dass die Orcas nur die Leber fressen, liegt wohl daran, dass die Haut der Haie ihre Zähne abschmirgelt. Die Leber eines Hais ist zudem gross; sie macht mindestens fünf Prozent des Gesamtgewichts aus. Das Organ ist ein Schatz an Energie und obendrein reich an Ölen, inklusive Squalen – ein Stoff mit antioxidierenden und Cholesterol-regulierenden Eigenschaften.
Der Orca (Orcinus orca), der zur Familie der Delfine gehört und in allen Ozeanen der Welt lebt, ist nicht nur grösser als der Weisse Hai (Carcharodon carcharias), er ist auch etwas schneller als der Raubfisch. Er ist ein Spitzenprädator, das heisst, er hat keinen Fressfeind. Orcas passen überdies ihre Jagdtechniken regelmässig an und geben diese an andere Mitglieder der Gruppe weiter.
Inzwischen scheinen auch andere Orca-Gruppen die in Südafrika beobachtete Jagdtechnik gelernt zu haben: Eine Gruppe in der Nähe des Golfs von Kalifornien hat ebenfalls junge Weisse Haie gejagt und deren Lebern gefressen, wie ein Forschungsteam in der Zeitschrift Frontiers in Marine Science schreibt. Die nach einem dominanten Männchen benannte Moctezuma-Gruppe wurde bei zwei koordinierten Angriffen von jeweils fünf Orcas in den Jahren 2020 und 2022 auf junge Weisse Haie beobachtet; drei Haie wurden dabei getötet.
«Diese Orcas zeigen eine bemerkenswerte Intelligenz und Anpassungsfähigkeit», stellt der Meeresbiologe Erick Higuera Rivas, Hauptautor der Studie, fest. «Das ist ein Beweis für ihre fortgeschrittene Kognition – sie haben eine Technik gelernt, verfeinert und weitergegeben, die es ihnen ermöglicht, eines der grössten Raubtiere des Ozeans zu jagen.»
Das Forschungsteam glaubt zu wissen, warum die Orcas speziell junge Weisse Haie angreifen: Ausgewachsene Weisse Haie reagieren blitzschnell auf die Ankunft einer Gruppe hungriger Orcas, verlassen diesen Lebensraum vollständig und kehren erst Monate später zurück. Dies ist auch in Südafrika geschehen. Junge Tiere hingegen scheinen diese Reaktion noch nicht zu zeigen. «Dies ist das erste Mal, dass wir beobachten, dass Orcas wiederholt junge Weisse Haie als Ziel auswählen», sagt Teammitglied Salvador Jorgensen. «Wir wissen noch nicht, ob die Fluchtreaktion der Weissen Haie angeboren ist oder erlernt werden muss.»
Dies ist übrigens nicht das erste Mal, dass Moctezumas Gruppe eine Haiart mehrfach angreift. Wissenschaftler haben bereits zuvor beobachtet, wie diese Orcas mühelos auch andere Walhaie, Bullenhaie und Rochen jagten. Das Forschungsteam beabsichtigt daher, weitere Untersuchungen zur Ernährung der Gruppe durchzuführen. Besonders interessiert dabei die Frage, ob die Orcas Weisse Haie gezielt jagen oder vor allem dann, wenn sie zufällig anwesend sind. Das ist keine leichte Aufgabe: Feldforschung ist oft teuer und in der Praxis erweisen sich Orcas als schwer vorhersehbar. Deshalb ist es laut Teammitglied Francesca Pancaldi wichtig, dass die Forschung nicht durch menschliches Handeln behindert wird.
Die Wissenschaftler vermuten, dass die Erwärmung der Ozeane und spezifisch das Wetterphänomen El Niño die Aufzuchtgebiete der Weissen Haie verändert haben. Dadurch könnten mehr Jungtiere in den Golf von Kalifornien gelangen – und damit in die Jagdgründe der Orcas. (dhr)
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