Die letzten vier Sommer in Florida waren die heissesten seit Beginn der Aufzeichnungen, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Klimaerwärmung. Im selben Zeitraum fanden Wissenschaftler, die das Schlüpfen von Meeresschildkröten beobachten, keine männlichen Tiere mehr an den Stränden des US-Staates, wie die Nachrichtenagentur Reuters Anfang August berichtete.
Bette Zirkelbach, Leiterin einer Schildkröten-Klinik in Marathon auf den Florida Keys im Süden des Bundesstaats, bestätigte den Sachverhalt gegenüber der Agentur. Sie wies zudem darauf hin, dass eine australische Studie vor vier Jahren bereits zu einem ähnlichen Befund gekommen war. Dort waren 99 Prozent der frisch geschlüpften Schildkröten weiblich, dies nach einem sehr heissen Sommer.
Die heissen Sommer und das drastische Ungleichgewicht bei der Geschlechtsverteilung der Reptilien sind nicht nur zeitgleich aufgetreten; es besteht auch ein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen. Meeresschildkröten und einige andere Familien von eierlegenden Reptilien wie Eidechsen und Krokodilen weisen nämlich eine Besonderheit der Geschlechtsausprägung auf: Das Geschlecht des Nachwuchses wird nicht wie bei Säugetieren über Geschlechtschromosomen bestimmt, sondern durch die Temperatur, der die Eier während eines bestimmten Zeitraums ausgesetzt sind.
Diese temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (temperature-dependent sex determination, TSD) wurde 1966 entdeckt. Es werden drei verschiedene Typen der TSD unterschieden:
Wenn die Eier von Meeresschildkröten unter 27,7 °C bebrütet werden, schlüpfen männliche Jungtiere; liegt die Umgebungstemperatur über 31 °C, wird der Nachwuchs weiblich. Bei Temperaturen, die zwischen diesen Grenzwerten liegen, schlüpfen sowohl weibliche als auch männliche Jungtiere. Sehr hohe Temperaturen erhöhen zudem die Mortalität der Eier.
Befunde wie jetzt in Florida oder 2018 in Australien, die eine extreme Verschiebung des Geschlechterverhältnisses zugunsten weiblicher Jungtiere zeigen, wecken Befürchtungen, dass die Klimaerwärmung den Bestand der Meeresschildkröten gefährden könnte. So warnt der amerikanische National Ocean Service: «Angesichts des Klimawandels könnten erhöhte Temperaturen zu verzerrten und sogar tödlichen Brutbedingungen führen, was sich auf Schildkrötenarten und andere Reptilien auswirken würde.»
Dies bereitet auch Melissa Rosales Rodriguez Sorgen. Die Mitarbeiterin in der Schildkröten-Klinik im Zoo von Miami sagte Reuters: «Im Lauf der Jahre wird die Population stark abnehmen, weil uns einfach die genetische Vielfalt fehlt. Wir haben nicht das nötige Verhältnis von Männchen zu Weibchen, um eine erfolgreiche Zucht durchführen zu können.» Zirkelbach sieht deswegen die Notwendigkeit, jede Schildkröte zu retten, die sie kann, und zusätzliche Schildkröten-Kliniken zu eröffnen.
Der Überhang von weiblichen Jungtieren hat allerdings auch einen Vorteil – zumindest, wenn das Verhältnis nicht derart extrem wird wie jetzt in Florida. Weibliche Tiere sind für den Erhalt der Population deutlich wichtiger als Männchen; mehr weibliche Tiere bedeuten mehr Nachwuchs. Zu diesem Schluss kommt eine Studie aus dem Jahr 2020, die postuliert, dass die temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (TSD) unter wärmeren Klimabedingungen einen Vorteil biete.
Wenn die Überlebensrate der Nachkommen bei hohen Temperaturen sinke, werde jenes Geschlecht produziert, das die zukünftige Fruchtbarkeit erhöht – also Weibchen. Dies erhöhe die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Klimaerwärmung. Die TSD, so glauben die Studienautoren, könnte so Reptilien geholfen haben, Massenaussterben in der Vergangenheit zu überleben. Falls dies zutreffen sollte, bleibt allerdings noch die Frage, ob die heutige Klimaerwärmung nicht so schnell voranschreitet, dass sich bestimmte Spezies nicht mehr rechtzeitig daran anpassen können. (dhr)