Die gegenwärtige Hitze in den Weltmeeren beunruhigt viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter – und lässt sie teilweise ratlos zurück. So etwa den emeritierten Professor Eliot Jacobson: «Was zum Teufel geschieht mit den Weltmeeren, und insbesondere mit dem Nordatlantik?», kommentiert er die aktuelle Lage in einem Blogartikel auf seiner Website.
Tatsächlich jagt im Nordatlantik schon seit Monaten ein Temperaturrekord den nächsten. Auch in der vergangenen 7 Tagen lag die Oberflächentemperatur des uns nächsten Ozeans mit durchschnittlich 22.7 Grad rund 1 Grad über dem Mittel der letzten dreissig Jahre. Das zeigen die Daten vom Climate Reanalyzer, einem Tool von Klimawissenschaftern der US-Universität Maine.
Es ist nicht nur der Atlantik, der neue Höchstwerte verzeichnet. Auch die globalen Meerestemperaturen sind beunruhigend hoch. Mitte März lag die Oberflächentemperatur aller Ozeane erstmals seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen 1982 im Schnitt über 21 Grad.
Aussergewöhnlich ist die Erwärmung der Meere aus zwei Gründen: Erstens übertreffen die neuen Temperaturrekorde die alten sehr deutlich. Zweitens dauert die Hitzewelle nun schon über drei Monate an, was ungewöhnlich lange ist.
So besorgniserregend die Situation auch sei, überraschen tue sie ihn nicht, sagt Thomas Frölicher, Klimaphysiker und Professor für Ozeanmodellierung an der Universität Bern. «Nun geschieht genau das, was von uns Fachleuten schon lange prognostiziert wurde. Nämlich, dass Hitzewellen in den Ozeanen mit der Klimaerwärmung häufiger, intensiver und grossflächiger werden.»
So wiesen Frölicher und sein Team etwa in einer im Fachmagazin «Science» publizierten Studie nach, dass heftige, für Meeresbewohner tödliche Hitzewellen seit Beginn der Industrialisierung über zwanzig Mal häufiger geworden sind. Zudem dauern die Hitzewellen immer länger: Waren es in den 80er-Jahren im Schnitt noch gut 30 Tage, dauerten sie im letzten Jahrzehnt fast 50 Tage an. Und die Hitzewellen waren in jüngster Vergangenheit heisser.
Auch wenn die verzeichneten Temperaturanomalien auf den ersten Blick nach wenig klingen: Wenn sich gigantische Wassermassen nur schon um die Bruchteile eines Grades erwärmen, sind das enorme Mengen an zusätzlich gespeicherter Wärmeenergie. Gemäss Thomas Frölicher hat sich der globale Ozean über die gesamte Wassersäule gemittelt seit 1960 um läppische 0.1 Grad erwärmt. Aber: «Diese Energie entspricht derjenigen, die etwa 200'000 Atomkraftwerke wie Gösgen in 60 Jahren liefern.»
Obwohl der Klimawandel also ohne Zweifel für einen Grossteil der derzeitigen Hitze in den Weltmeeren verantwortlich ist, erklärt er den rasanten Anstieg an der Meeresoberfläche in den letzten Monaten nicht – dies bereitet auch der Wissenschaft Kopfzerbrechen.
Nach Ansicht einiger Experten könnte eine neue Vorschrift in der Schifffahrt die derzeit warmen Temperaturen im Nordatlantik begünstigen. Denn seit Anfang 2020 dürfen Schiffe nur noch Treibstoff mit maximal 0.5 Prozent Schwefel verbrennen, zuvor waren noch 3.5 Prozent erlaubt.
Dieser reduzierte Grenzwert führte zu einem Rückgang der Schwefeloxidemissionen um über 75 Prozent, wie Eliot Jacobson, der emeritierte Professor, auf seinem Blog schreibt: «Dies ist zwar in vielerlei Hinsicht gut für die Umwelt (zum Beispiel weniger saurer Regen und Versauerung der Meere), hatte aber auch eine nicht ganz unerwartete Folge.»
Was er damit meint: Schwefelpartikel haben eine kühlende Wirkung, weil sie Sonnenlicht zurück ins Weltall strahlen. Gibt es weniger von den Teilchen, verringert sich dieser Effekt. Zu beobachten ist dies vor allem in den Regionen der wichtigsten und dichtesten Schifffahrtsrouten, unter anderem eben dem Nordatlantik.
For decades this area has been kept relatively cool by sulfur emissions from ships.
— Leon Simons (@LeonSimons8) March 8, 2023
But this changed in 2020. pic.twitter.com/DFD39uyVJ3
Thomas Frölicher allerdings ist von der Schwefel-Theorie nicht wirklich überzeugt. Denn: «Damit lässt sich nicht erklären, wieso es in manchen Regionen des Atlantiks heisser ist als in anderen.» Plausibler scheint ihm die Erklärung mit den Passatwinden.
Die lautet so: Passatwinde sind ganzjährig beständige Ostwinde in der Region des Äquators. Wehen sie über den Ozean, kühlen sie die Meeresoberfläche ab, indem sie tieferes und kälteres Wasser nach oben bringen. Momentan aber sind die Passatwinde im tropischen Atlantik und Pazifik schwächer - und dann können sie das Gegenteil bewirken. Dies, indem sie die Durchmischung der Wasserschichten verringern.
Durch die schwachen Passatwinde fällt noch ein weiterer Kühleffekt weg: der Saharastaub, der von den Winden normalerweise in grossen Mengen aus der nordafrikanischen Wüste quer über den Ozean bis nach Südamerika transportiert wird und das Sonnenlicht reflektiert.
Bemerkenswert ist, dass die Temperaturen im Ozean schon so hoch sind, bevor der sich nun anbahnende El Niño begonnen hat. El Niño, das ist ein Wetterphänomen, das alle zwei bis sieben Jahre im Wechsel mit seiner Schwester La Niña auftritt.
Während El Niño oft mit erhöhter Hitze, regionaler Dürre und wärmeren Ozeantemperaturen einhergeht, hat La Niña den gegenteiligen Effekt und bremste den globalen Temperaturanstieg in den vergangenen drei Jahren vorübergehend. «Momentan sind wir in einer Zwischenphase», erklärt Ozeanexperte Frölicher. Das heisst: La Niña hat aufgehört und kühlt nicht mehr, El Niño hat aber auch noch nicht eingesetzt. Wann und ob El Niño einsetzt, ist noch unklar.
«Die Behörde in Australien hat gerade eben mitgeteilt, dass die Wahrscheinlichkeit bei etwa 70 Prozent liegt, dass El Niño dieses Jahr einsetzt», so der Berner Professor. «Das würde die Hitze an der Meeresoberfläche in den nächsten Wochen und Monaten weiter befeuern.» Dies kann schwerwiegende Auswirkungen auf die marinen Ökosysteme haben: ausbleichende Korallen, sterbende Seegras- und Kelpwälder sind nur ein paar Beispiele.
Und nicht nur das: Wie Frölicher und seine Kollegen erst kürzlich zeigen konnten, treten Hitzewellen oftmals in Kombination mit anderen Extremereignissen wie Sauerstoffmangel und Versauerung auf. «Solche kombinierten Extreme belasten die Ökosysteme ungleich schwerer.» Er geht davon aus, dass ein solches kombiniertes Ereignis im subtropischen Atlantik derzeit stattfindet.