Zeit ist relativ – das ist, ganz abgesehen von der Einsteinschen Relativitätstheorie, uns allen aus dem Alltag bewusst. Wenn wir auf jemanden warten, erscheinen Minuten wie Stunden, aber umgekehrt, wenn wir beschäftigt sind, kommen uns Stunden wie Minuten vor.
Die seltsame Plastizität der Zeitempfindung kennen viele von uns auch, wenn wir uns an die Sommer unserer Kindheit erinnern: Damals waren sie schier endlos – während sie heute vorbei sind, kaum haben sie begonnen.
Diesem Phänomen sind Wissenschaftler der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest auf den Grund gegangen. Sie haben untersucht, ob sich die Wahrnehmung der Zeit mit dem Alter verändert – und wenn ja, wie und warum wir den Zeitablauf unterschiedlich wahrnehmen. Die Ergebnisse ihrer Studie haben sie in «Scientific Reports» veröffentlicht.
Die Forscher um Zoltán Nádasdy untersuchten den Grad der Ereignishaftigkeit – salopp formuliert: wie viel in einem Zeitraum passiert – und dessen Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Zeit.
Die Teilnehmer der Studie wurden in drei Alterskategorien eingeteilt: 4 und 5 Jahre, 9 und 10 Jahre sowie 18 Jahre und älter. Alle sahen dann zwei Videos von je exakt einer Minute Dauer. Beide Videos enthielten Ausschnitte aus einer beliebten Zeichentrickserie, die sich in Bezug auf ihre visuellen und akustischen Merkmale ähnelten – bis auf den Aspekt der Ereignishaftigkeit, also wie viel passierte.
Im einen Video war eine schnelle Abfolge von Ereignissen zu sehen (ein Polizist rettet Tiere und verhaftet einen Dieb), im andern hingegen eine monotone und repetitive Sequenz (sechs Gefangene fliehen auf einem Ruderboot). Beide Videos wurden den Testpersonen kurz nacheinander vorgeführt, wobei die eine Hälfte zuerst den spannenden Clip zu sehen bekam, die andere Hälfte den langweiligen.
Danach mussten die Studienteilnehmer lediglich zwei einfache Fragen beantworten: «Welches Video dauerte länger?» Und: «Kannst du mit deinen ausgestreckten Armen zeigen, wie lang das Video war?» Solche simplen Fragen kann auch ein Vierjähriger verstehen.
Interessant war das unterschiedliche Verhalten der Testpersonen, wenn sie die Dauer der Videos mit ihren Armen angaben: Obwohl es keine Anweisungen gab, dass die Arme dabei horizontal gestreckt werden sollten, taten mehr als 90 Prozent der Erwachsenen genau dies. Bei den Kindern machte hingegen nur rund die Hälfte eine horizontale Bewegung, die anderen zeigten die Dauer vertikal an.
Mit dem Ergebnis, welches Video von welcher Gruppe als länger eingestuft wurde, hatten die Forscher allerdings nicht gerechnet: Mehr als zwei Drittel der Testpersonen aus der jüngsten Gruppe bezeichneten das spannende Video als das länger dauernde, während umgekehrt drei Viertel der erwachsenen Studienteilnehmer fanden, das langweilige Video habe länger gedauert.
Die mittlere Gruppe der 9- und 10-Jährigen beurteilte die Dauer der Videos weitgehend ähnlich wie die Gruppe der Erwachsenen, wenn auch etwas weniger ausgeprägt. Bei Einbezug dieser Altersgruppe lag der Wendepunkt zwischen den beiden widersprüchlichen Ansichten bei etwa sieben Jahren.
Warum diese unterschiedliche Einschätzung der Dauer? Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass sich die Einschätzung der Dauer beispielsweise von der Einschätzung der geometrischen Länge unterscheidet. Unsere Sinne erfassen eine Dauer nicht auf dieselbe Weise wie Helligkeit, Lautstärke oder Länge. Wenn wir zwei Linien nebeneinander sehen, erkennen wir sofort den Unterschied in ihrer Länge.
Die Dauer von zwei Ereignissen können wir direkt miteinander vergleichen, wenn sie gleichzeitig vor unseren Augen ablaufen. Aufeinander folgende Ereignisse hingegen können wir hinsichtlich ihrer Dauer lediglich mithilfe unseres Gedächtnisses vergleichen – und dies kann knifflig sein.
Da unser Gehirn weder über eine verlässliche zentrale Uhr noch über eine direkte sensorische Abbildung einer Dauer verfügt, müssen wir für die Einschätzung einer Dauer auf eine Heuristik zurückgreifen. Heuristiken sind Strategien, die wir anwenden, wenn wir unsicher sind und nur über begrenzte Informationen verfügen. Wir wenden dann als Ersatz eine Regel an, die nicht genau dem entspricht, wonach wir suchen, die uns aber immerhin ein Ergebnis liefern kann, das uns erlaubt, eine schnelle und effiziente Entscheidung zu treffen.
Ein möglicher Ersatz für «Dauer» kann etwas Konkretes sein, das mit dem Zeitinhalt zu tun hat: «Worüber kann ich mehr erzählen?», eine Repräsentativitätsheuristik. Das ereignisreiche Video enthielt mehr Aktionen, über die berichtet werden konnte, während das ereignisarme Video sich praktisch nur schon mit dem Begriff «rudern» zusammenfassen liess. Von einer Repräsentativitätsheuristik ausgehend, empfanden Kinder der Altersgruppe von 4 bis 5 Jahren das ereignisreiche Video also als länger.
Wenn dieser Begriff der Dauer jedoch einen guten Ersatz für «Zeit» darstellt, warum ändert sich dies später? Für die Wissenschaftler liegt das daran, dass etwa um das Alter von 7 Jahren herum eine Umstellung auf eine andere Heuristik erfolgt, nämlich die Stichprobenheuristik. Diese besteht darin, dass wir den Fluss der Zeit überprüfen, indem wir ihn gewissermassen abtasten – beispielsweise, indem wir auf die Uhr gucken oder aus dem Fenster schauen und den Verkehrsfluss beobachten. Je öfter wir dies tun, desto zuverlässiger ist unsere Schätzung.
Die Stichprobenheuristik beruht auf einem anderen Konzept der Zeit, das wir erst in einem Alter von sechs bis zehn Jahren kennenlernen – jenes der absoluten, universellen Zeit. Wir verwenden es, wenn wir etwa Termine vereinbaren oder einen Fahrplan konsultieren. Wir sind uns bewusst, dass die Zeit unabhängig vom Beobachter ist, aber in unserer subjektiven Erfahrung schneller oder langsamer vergehen kann. Die subjektive Komponente können wir verringern, indem wir den Zeitfluss kontrollieren.
Allerdings ist unser Gehirn nicht immer in der Lage, die Zeit zu erfassen. Wenn eine andere Aufgabe die Aufmerksamkeit auf sich zieht, kann es sein, dass das Gehirn bei der Abtastung der absoluten Zeit einige Zyklen überspringt. Wenn wir dagegen auf jemanden warten, der zu spät zu einem Termin kommt, zählt das Gehirn gewissermassen die Sekunden – und die Zeit verlangsamt sich.
Dies kommt auch dann zu tragen, wenn wir uns einen Film anschauen. Wenn er uns fesselt, lässt uns die schnelle Abfolge der Handlungen keine Zeit, an etwas anderes zu denken, etwa eine Arbeit oder eine Aufgabenliste. Stattdessen wird der Verstand völlig von der fiktiven Realität der Filmhandlung in Beschlag genommen. Ist der Film jedoch langweilig, schaut man auf die Uhr oder denkt darüber nach, wo man zu diesem Zeitpunkt auch sein könnte. All diese Ablenkungen vom Film ermöglichen es uns, den absoluten Zeitfluss besser zu erfassen.
Warum der Sommer in der Kindheit unendlich lang erschien, heute aber im Nu vorbei ist, erklärt sich also aus diesen beiden unterschiedlichen Heuristiken, die vor und nach dem Alter von ungefähr sieben Jahren unser Zeitempfinden bestimmen. Nach dieser Umstellung erscheinen uns langweilige Sitzungen länger, als sie in Wirklichkeit sind, und das wird uns unser Leben lang begleiten.
Als Kind hatte ich das Gefühl, ewig zu leben. Dann als junge Erwachsen. Ich leben noch lange.
Jetzt, mit 75, jedes Jahr kann das letzte sein.
Ich muss ja nicht so alt, wie meine Mutter werden. Sie wurde 100 Jahre alt. Irgendwie möchte ich das ja auch nicht.