In der Schweiz leben zurzeit etwa 150'000 Menschen mit Demenz, in gut 20 Jahren werden es mit der Alterung der Gesellschaft wohl rund 315'000 sein, wie Alzheimer Schweiz berechnet. Demenz betrifft nicht nur die Patienten selber, sondern auch deren Umfeld. Kein Wunder, werden Meldungen zu neuen Alzheimer-Medikamenten von der Bevölkerung mit grossen Hoffnungen verbunden.
Auch in diesem Fall: Die Pharmaunternehmen Eisai und Biogen berichten über vielversprechende Ergebnisse der klinischen Phase-3-Studie zum Medikament Lecanemab. Mit diesem Wirkstoff soll sich die Alzheimer-Erkrankung in einem frühen Stadium behandeln lassen.
«Früh heisst, dass die Patienten im Alltag noch weitgehend normal funktionieren und kaum auf Hilfe angewiesen sind», erklärt Ansgar Felbecker, Präsident der Swiss Memory Clinics und Neurologe am Kantonsspital St.Gallen. Frühzeitig heisst auch, dass gleichzeitig die Proteine der Alzheimer-Erkrankung, vor allem die Eiweissablagerung Amyloid, bereits im Nervenwasser oder durch eine Bildgebung nachweisbar sein müssen.
Lecanemab richtet sich genau gegen diese für Alzheimer charakteristischen Eiweissablagerungen im Gehirn. Das Medikament ist ein monoklonaler Antikörper. Das erinnert an das Medikament Aducanumab, das vor einem Jahr als Hoffnungsträger gefeiert wurde. Felbecker sagt:
Somit seien die Medikamente vergleichbar. Allerdings unterscheiden sich die beiden Wirkstoffe beim genauen Angriffspunkt. Denn die Amyloid-Proteine können in verschiedenen Formen im menschlichen Gehirn vorliegen – als Eiweisse in Form von Monomeren, Oligomeren, Protofibrillen und reifen Fibrillen. «Und Lecanemab zielt mehr auf Protofibrillen, welche für besonders schädlich gehalten werden», sagt der Leitende Arzt der Klinik für Neurologie.
Nicht nur deswegen ist Lecanemab heute das hoffnungsvollere Medikament, sondern auch «weil vor allem die Phase-3-Studie die überzeugenderen Ergebnisse gezeigt hat», erklärt Felbecker. Von Hoffnungen war schon viel die Rede, deshalb sind viele skeptisch. Allzu oft habe es schon Enttäuschungen in der Alzheimer-Forschung gegeben, Euphorie wäre fehl am Platz, sagt deshalb der Demenzexperte. «Aber es könnte tatsächlich dieses Mal eine bessere Wirkung geben. In den Studien hat man nun Erfahrungen mit rund 2000 Patienten gesammelt.» Ob der Hoffnungsträger dann wirklich halte, was er verspreche, könne erst nach Erfahrungen mit noch grösseren Patientengruppen beurteilt werden.
Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative in Deutschland, stimmen die Ergebnisse vorsichtig optimistisch. Erstmals konnte nach Thienpont ein Wirkstoff, der in die Mechanismen der Alzheimer-Krankheit eingreift, die Gedächtnisleistung in einer Phase-3-Studie verbessern. Die erzielte Verbesserung gegenüber der Kontrollgruppe sei allerdings moderat.
Einen Fortschritt zeigt Lecanemab gemäss der Studie bei den Nebenwirkungen, die geringer seien als bei anderen Alzheimer-Medikamenten. «Zumindest scheinen die gefürchteten Nebenwirkungen, sogenannte ‹Aria›, das sind Hirnschwellungen und kleine Blutungen im Gehirn, deutlich seltener aufzutreten als bei Aducanumab», sagt Felbecker. Wichtig sei vor allem, dass in den meisten Fällen, in denen solche Auffälligkeiten im MRI-Untersuch zu sehen waren, keine Symptome auftraten. In diesen Fällen würde er gar nicht von Nebenwirkungen sprechen, sondern von einem positiven Signal, dass die Behandlung im Gehirn tatsächlich etwas auslöse.
Diskutiert wird auch, ob der Weg der Bekämpfung des Amyloids der richtige ist, da dieses Eiweiss nur ein Faktor von Demenz ist. Es gibt auch Wirkstoffe, die gegen Tau-Proteine wirken. Beides seien vielversprechende Ansätze, sagt Felbecker.
«Amyloid ist ein wesentlicher Faktor in der Alzheimer-Entstehung, und ihn zu bekämpfen, scheint nun auch zu funktionieren. Aber langfristig wird es vermutlich auch Therapien gegen Tau-Proteine und andere Faktoren der Erkrankung brauchen, um die Erkrankung wirklich stoppen zu können.»
Gerade angesichts erneut steigender Gesundheits- und Krankenkassenkosten wird immer auch der Preis einer Therapie kritisiert. Zum Preis von Lecanemab ist noch nichts bekannt. Aber die Preise solcher neuer Medikamente sind oft sehr hoch. Das hat damit zu tun, dass die Entwicklungskosten für neue Medikamente und auch das Risiko, dass der Wirkstoff während des Studienprozesses scheitert, sehr hoch sind.
Firmen wollen diese hohen Kosten nach einem Erfolg des Medikaments reinholen, somit hat der hohe Preis seine wirtschaftliche Logik. Zumal diese Firmen auch Reserven schaffen müssen, um wieder Geld für die Entwicklung neuer Arzneimittel und Therapien zu haben. «Ohne Forschung der Pharmaindustrie wären die Fortschritte im Bereich medikamentöser Therapien sehr klein», hält der Präsident der Swiss Memory Clinics fest.
Natürlich stünden auf der anderen Seite die immer weiter steigenden Gesundheitskosten, deshalb müssten immer sinnvolle Kompromisse gefunden werden. «Man muss aber auch bedenken: Die mit Abstand grössten Kosten im Demenzbereich entstehen derzeit in der ambulanten und stationären Pflege. Wenn ein wirksames Medikament diese Kosten etwas reduzieren würde, könnte das einen höheren Preis nicht vielleicht sogar rechtfertigen?», fragt Felbecker. Solche Überlegungen gelte es nach einer allfälligen Zulassung von Lecanemab bei den Preisverhandlungen mit den Firmen auch zu bedenken.
Lacanemab kann somit als hoffnungsvolle Therapie bezeichnet werden. Detaillierte Studienergebnisse werden aber erst Ende November vorgestellt. Dann werden sich die Demenzspezialisten wieder äussern. Eines gilt aber leider auch für dieses Medikament: Lecanemab kann Alzheimer nicht heilen, aber vielleicht irgendwann zumindest verzögern. (aargauerzeitung.ch)