Rückblickend war Tiefpunkt wohl damals, als sie vor der Hausärztin in Tränen ausbrach. Sie hatte die schönen Ferien in Italien einen Tag früher als geplant beendet und einen Arzttermin vereinbart. Sie war sich sicher, in ihrem Bauch stimme etwas nicht. Ein Krebs irgendwo.
Ihr Mann hatte sie in die Arme genommen und gesagt, er glaube nicht, dass das stimme. Da hatte sie schon in der Nacht davor eine Art Abschiedsgedicht geschrieben, ein Angstgedicht:
Sie hatte ein Ziehen im Bauch seit der Geburt des zweiten Kindes, Blähungen und Rülpsen, die sie je länger desto stärker plagten. Während sie sich zuerst noch gesagt hatte, dass ihre eigene Mutter doch auch oft rülpse und noch immer lebe, hatte sie plötzlich eine Angst gepackt, die Ursache könnte etwas Schlimmes sein.
Nennen wir sie hier Monika F. Sie könnte auch anders heissen, Krankheitsangst, zu Englisch «health anxiety» ist weit verbreitet. Studien sprechen von zwei bis dreizehn Prozent der Bevölkerung, die davon betroffen sind.
Nur wenige aber haben diese Ängste so stark, dass sie als hypochondrische Störung bezeichnet werden können und die Leute zwanghaft bis wahnhaft glauben, dass sie krank seien, sodass sie weder eine Haus- noch eine Fachärztin beruhigen kann.
«Sie sehen zum Beispiel eine Veränderung an ihrer Haut, die keiner sonst sieht», sagt Psychiater Roland von Känel.
Von Känel ist Direktor der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich. Hypochondrie wird das in der Medizin nicht mehr genannt. Die schweren Fälle werden Zwangsstörungen zugeordnet, leichtere gehören zu den somatischen Belastungsstörungen. «Katastrophisierende Gedanken» nennt von Känel das, wenn man zum Beispiel immer wieder denkt, man habe nun einen Herzinfarkt.
Monika F. hat keine Zwangsstörung. Aber die Hausärztin sah wohl ihre grosse Sorge und fragte: «Ist zu Hause alles in Ordnung mit den Kindern?» Die Frau antwortete:
Sie meldete die Frau für einen Ultraschall des Bauches im Spital an, wo bis auf eine winzige Zyste in der Gallenblase nichts gefunden wurde. Der Arzt kommentierte das mit:
Und sie habe eine dünne Bauchwand, da sehe man wirklich alles.
Auf dem Hinweg ins Spital hatte sich die Frau noch überlegt, wie wohl ihr Mann mit den beiden kleinen Kindern alleine zurechtkommen würde. Nun, auf dem Rückweg, schämte sie sich. Da waren in der Radiologie des Spitals ziemlich sicher Krebspatienten gewesen und sie selber hatte wegen nichts Angst gehabt.
Es war nicht die erste Angst-Episode gewesen. Ein dreiviertel Jahr davor war sie schon bei der Hausärztin gewesen, überzeugt, sie hätte Multiple Sklerose wegen Kribbeln in einem Arm, Druck im Kopf, einem verspannten Nacken. Sie bekam einen Termin beim Osteopathen. Das wirkliche Problem war: Die Frau presste nachts die Zähne zusammen und war tagsüber so verspannt, dass sie kaum noch klar denken konnte. «So dachte ich schliesslich, auch in meinem Kopf stimme was nicht», erinnert sie sich.
Einmal war sie in Sorge wegen vermeintlichen Knoten in der Hand, ein andermal hatte sie Panik bekommen, weil sie sich ständig etwas von der Lunge weg räuspern musste. Die Hausärztin hatte sie zum Röntgen der Lungen geschickt mit dem Kommentar «das kann ich gerade noch verantworten». Die richtige Diagnose stellte sie einen Tag später: Schleim, der ständig vom Nasenraum in die Luftröhre rinnt. Das Symptom verschwand wieder.
«Ich sagte der Ärztin damals, dass ich das Vertrauen in meinen Körper verloren hätte», erzählt Monika F.
Auch Hausarzt Jean-Jacques Fasnacht kennt solche Fälle sehr gut. Wenn ein Patient mit Leiden zu ihm kommt, für die er keine Erklärung sieht, stellt er breiter gefächerte Fragen. Fragt ebenfalls, wie es zu Hause gehe. «Dann erfahre ich zum Beispiel dass vor drei, vier Wochen der Hund eingeschläfert werden musste», sagt Fasnacht. «Aber um so was zu erfahren, muss man sich Zeit nehmen.» Viele seien erleichtert, wenn er sage, er habe nichts Ernstes gefunden. «Manche bleiben in ihrer Angst gefangen und kommen bald wieder.»
Manche Patienten fordern genauere Untersuchungen auch aktiv ein. Ultraschall, Röntgen, MRI – gerade, wer sich vor Krebs fürchtet, möchte oft die hundertprozentige Sicherheit durch eine teure Maschine. «Mr. Google und die Cyberchondrie sind eine riesige Herausforderung», sagt Fasnacht.
Er ordne keine Untersuchungen an, hinter denen er nicht stehen könne, sagt Fasnacht, um nachzuschieben:
Denn das Problem bei dieser psychischen Störung ist: Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Fast jedes Symptom, das ein Mensch spüren kann, ob Kribbeln, Kopfweh, Bauchschmerzen, Konzentrationsstörungen, Durchfall oder Lähmungserscheinungen kann auch eine psychosomatische Ursache haben. «Ausser natürlich, wenn man Blut spuckt, oder schnell an Gewicht verliert», sagt Fasnacht. Wobei auch Gewichtsverlust durch Angst und Sorge passieren kann: Dass der Arzt in der Radiologie bei Monika F. einen so guten Ultraschall hatte machen können, lag nämlich daran, dass sie während eines Jahres einige Kilos beziehungsweise den Appetit verloren hatte vor Sorge.
«Stress beeinflusst eben die ganze Biologie», sagt Psychosomatiker Roland von Känel.
Und nicht nur das: Der Herzkreislauf wird belastet, neurologische Beschwerden können auftreten und Magen-Darm-Probleme. Dies, laut von Känel, weil durch den Stress Entzündungsreaktionen im Körper auftreten können, welche Gefässzellen angreifen. Auch führt Stress zu einem Anstieg von Fetten und Zucker im Blut, was langfristig die Gefässzellen schädigt.
Ihn überrascht es deshalb nicht, dass hypochondrische Personen ein höheres Risiko haben zu sterben als andere. Zu diesem Schluss kam eine Studie im Dezember, die in der Fachwelt über Monate hinweg für Aufmerksamkeit sorgte. Das Team um David Mataix-Cols vom Karolinska Institut in Stockholm und der Universität Lund hatte über 4000 Personen mit einer hypochondrischen Diagnose untersucht und 41'000 Personen ohne. Während dem Zeitraum von 24 Jahren starben 2029 Personen: Die Hypochonder unter ihnen starben durchschnittlich mit siebzig Jahren, jene ohne diese Störung erst mit 75.
«Das sind nicht unbedingt die Resultate, die man erwarten würde, weil Menschen mit einer Hypochondrie nur annehmen, dass sie eine schwere Krankheit hätten oder die Schwere der vorhandenen körperlichen Beschwerden überbewerten», sagt von Känel.
Vielleicht seien die Leute zwar bezüglich ihrer körperlichen Leiden beruhigt, aber bezogen auf ihre Ängste gar nicht therapiert worden. «Lässt man solche Patienten alleine, bedeutet das ein enormes Stresslevel.» Mit den bekannten Risiken: In der Studie war vor allem das Risiko für Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen erhöht. Zudem begingen die Hypochonder viermal häufiger Suizid. Viele von ihnen waren zusätzlich depressiv. Dass die Suizidrate bei Hypochondern so hoch war, überraschte auch die Studienautoren.
An einer der häufigsten Befürchtungen starben Hypochonder in der erwähnten Studie übrigens nicht häufiger als andere Personen: Krebs. Und da die Studie mit Personen gemacht wurde, die offiziell eine hypochondrische Diagnose hatten, treffen die Ergebnisse nicht unbedingt auf leichte Fälle zu. Eine Studie aus Schottland kam 2017 denn auch zum Schluss, dass neurotische Personen, also Alltagshypochonder, im Gegenteil ein acht Prozent niedrigeres Risiko haben zu sterben. Dies wurde damit begründet, dass sie früher zum Arzt gehen würden.
Ob leichter oder schwerer Fall von Krankheitsangst: Hypochonder belasten das Gesundheitssystem zusätzlich und beanspruchen speziell viel Zeit bei Hausärztinnen und Hausärzten. Und das Problem wird grösser: Ebenfalls Schwedische Forscher waren es, die 2020 bei 22'000 Studierenden untersucht hatten, ob die Krankheitsangst über die Jahrzehnte zugenommen hatte. Schon nur wegen Molières Theaterstück «Der eingebildete Kranke» von 1673 ist klar, dass es Hypochondrie lange gibt und wohl zu den urmenschlichen Ängsten gehört. Die Forschenden um Amanda Kosic vermuteten aber, dass das Internet diese Ängste noch befeuert haben könnte. Der Befund: Nein, starke Internetnutzer sind nicht ängstlicher als andere Personen. Aber ja, die Krankheitsangst hat zwischen 1985 und 2017 zugenommen.
Mit der vor und vor allem während der Pandemie festgestellten Verschlechterung der psychischen Gesundheit und Verunsicherung in der Bevölkerung dürfte sich auch die Krankheitsangst weiter verbreitet haben. Es ist im Übrigen keine typische Wohlstands-Angst. Migrantinnen und Migranten sind davon häufiger betroffen, wie eine Studie der Hamburger Forscherin Rieke Barbek 2020 primär in Nordamerika ergab. Dies, weil sie häufiger von traumatischen Erlebnissen betroffen sind und gleichzeitig weniger oft die Möglichkeit haben, körperliche Beschwerden abzuklären, wie die Forschenden schreiben:
Der Arzt wäre für die Betroffenen eine Schlüsselstelle. Aber nicht um sie abzuwimmeln. Denn wie von Känel sagt: «Stress entsteht auch, wenn sich eine Person nicht ernst genommen fühlt.» Der Psychosomatiker rät, nicht zu sagen: «Sie bilden sich das ein, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.» Sonst gehe der Patient womöglich einfach zum nächsten Arzt und eine Odyssee beginne. «Man sollte sich stattdessen die Zeit nehmen zu schauen, wo diese Ängste herkommen, was die Ängst verstärke und was sie lindere.» Das Wissen darüber, wie man mit solchen Patienten umgehe, sollte eigentlich in die Grundausbildung der Facharztausbildung gehören, resümiert von Känel. «Schon Kommunikationskurse würden etwas bringen. Wirkungslos ist auf jeden Fall simples Beruhigen von Patientinnen und Patienten, die an ausgeprägten Krankeitsängsten leiden.»
Auch Hausarzt Jean-Jacques Fasnacht sagt:
Wenn er dann nichts findet und der Patient beunruhigt bleibt, fragt Fasnacht auch mal: Was ist Ihre Befürchtung? Das sei eine gute Grundlage fürs weitere Gespräch. Wenn die Angst bestehen bleibe, müsse man unbedingt was machen.
Monika F.s Ängste sind nicht wiedergekehrt. Vier Jahre sind seither vergangen. Die Kinder sind grösser geworden, sie hat wieder Vertrauen in ihren Körper und das Leben gefasst. Ein Ratschlag ist ihr aus dieser Zeit geblieben: «Irgendwann fiel mir ein Buch mit dem grossen Titel ‹Angst› in die Hände», erinnert sie sich. Darin stand an einer Stelle sinngemäss:
Der Satz hat nicht sofort geholfen, es war während zweier Jahre zu verschiedenen hypochondrischen Episoden gekommen. Was war der Grund? «Ich bin keine ängstliche Mutter, oder wollte es zumindest nicht sein», sagt sie. «Aber vielleicht hat sich die grosse Verantwortung, die mit dem Kinderkriegen kommt, halt als solche Angst einen Weg gesucht.» Und dann sei im nahen Umfeld ein paar Monate vor der ersten Episode auch noch etwas passiert, das sie tief erschüttert habe, über das sie aber nicht sprechen möchte.
Eine Frage bleibt: Befürchtet man als Hausarzt nicht manchmal doch etwas zu übersehen und die Symptome eines Patienten vorschnell als psychosomatisch abzustempeln? Fasnacht sagt: «Wir haben heute viele Möglichkeiten zum Abklären. Aber klar, hundertprozentig sicher sind nur die Geburt und der Tod. Dazwischen ist alles möglich. Da muss man als Arzt demütig bleiben.» Dass gerade Long-Covid-Patienten fälschlicherweise in die Hypochonder-Ecke gestellt würde, glaubt Fasnacht nicht mehr. «Das Fatigue-Syndrom generell war vor Corona lange ein Mysterium, aber da sind wir inzwischen zum Glück weiter.»
Hausarzt Fasnacht klärte jedenfalls auch jene Patientin immer wieder ab, die einmal pro Jahr bei ihm auftauchte wegen eines Stechens im Herzen. «Als sie zum fünften Mal kam und selber sagte, ‹Ich glaube, es ist nichts›, hatte sie prompt tatsächlich eine Herzrhythmusstörung.»
Haben die Patienten selbst Möglichkeiten Rat zu holen, bevor sie voller Angst zur Hausärztin zu gehen? Eigentlich gäbe es viele Online-Programme bei Angststörungen. Allerdings wenige, mit denen man gezielt Krankheitsängste angehen kann. Und selten ist die Nutzung anonym, die Unternehmen fordern zum Beispiel eine E-Mail-Adresse ein, wie beim Selbsttest auf https://www.selfapy.com. Oder sie sind kostenpflichtig, wie beim Videokurs unter panikattacken-loswerden.de. Hilfreich können Gesundheits-Foren sein wie psychic.de oder med2-forum.de, in denen Leute ihre Symptome schildern und wo beim Lesen oft klar wird, dass diese verbreitet sind und nichts Schlimmes bedeuten müssen.
Es gibt kein "Zellschaden" oder sonstige 'objektivizierbare' Befunde, aber die Symptome SIND da. Die Therapie setzt dann halt aber doch an der Psyche an