meist klar
DE | FR
Blogs
Sektenblog

Juden in Europa denken ans Auswandern: Die Angst ist zurück

Rabbiner stellen am Freitag, 11. Dezember 2009, vor dem Brandenburger Tor in Berlin einem Chanukka-Leuchter auf. Chanukka ist das achttaegige juedische Lichterfest und wird dieses Jahr vom 11. bis 18. ...
Ein Rabbiner stellt vor dem Brandenburger Tor in Berlin einem Chanukka-Leuchter auf.Bild: AP
Sektenblog

Europas Juden denken ans Auswandern: Die Angst ist zurück

17.12.2018, 09:2418.12.2018, 15:23
Hugo Stamm
Folge mir
Mehr «Blogs»

Der Holocaust löste in Deutschland ein historisches kollektives Trauma aus, das bis heute eine offene Wunde geblieben ist. Obwohl die heutigen Generationen keine Schuld trifft, leidet unser Nachbar immer noch an diesem beispiellosen Genozid.

Nie wieder, schwören sich besonnene Menschen. Das Ereignis dient als Schulbeispiel dafür, welche zerstörerische Kraft im Faschismus steckt.

ZU SICHERHEITSMASSNAHMEN AN RELIGIOESEN EINRICHTUNGEN STELLEN WIR IHNEN HEUTE, MITTWOCH, 15. FEBRUAR 2017, FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG --- Surveillance cameras at the entrance of the synagog ...
Gut beschützt: Der Eingang zu einer Synagoge in ZürichBild: KEYSTONE

Eine Untersuchung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zeigt nun, dass sich der Antisemitismus gerade in Deutschland wieder rasch ausbreitet. Zwar nehmen Ressentiments gegen und Hass auf die Juden in ganz Europa zu, doch Spitzenreiter in diesem bedenklichen Ranking ist ausgerechnet Deutschland.

Befragt wurden 16'300 Juden aus 12 europäischen Ländern. Das Ergebnis ist alarmierend: 41 Prozent der befragten Juden in Deutschland gaben an, im vergangenen Jahr belästigt worden zu sein. Das ist der Spitzenwert.

Der europäische Durchschnitt lag bei 28 Prozent. In den vergangenen fünf Jahren lagen die Belästigungen europaweit bei 79 Prozent.

Fast die Hälfte dachte an Auswanderung

Deutschland führt das unrühmliche Ranking auch bei einem weiteren Problem an. 44 Prozent der deutschen Juden haben in den letzten fünf Jahren schon eine Auswanderung in Erwägung gezogen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Der europäische Durchschnitt liegt bei 38 Prozent.

Ausserdem sagten 89 Prozent aller Befragten, dass der Antisemitismus nach ihren Erfahrungen in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Am häufigsten stellten dies Juden in Frankreich mit 93 Prozent fest. 85 Prozent der europäischen Juden halten den Antisemitismus für ihr grösstes soziales und politisches Problem.

«Die jüdische Gemeinschaft sollte sich in Europa zu Hause und sicher fühlen, egal ob auf dem Weg zur Synagoge oder beim Surfen im Internet.»
Vĕra Jourová, EU-Kommissarin

Die Angst vor Übergriffen

Bild Online hat noch weitere Zahlen der Untersuchung veröffentlicht. So gaben 75 Prozent der deutschen Juden an, manchmal, häufig oder immer darauf zu verzichten, jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen. 46 Prozent meiden gewisse Gegenden, weil sie Angst vor Belästigungen oder Übergriffen haben aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Das, obwohl sie niemanden missionieren und keine religiösen Expansionsgelüste hegen.

Sektenblog
AbonnierenAbonnieren

Überraschende Resultate ergaben sich auch bei der Frage nach den Tätern der Übergriffe. So erklärten 41 Prozent der befragten Juden in Deutschland, die Täter hätten einen muslimischen Hintergrund. Rechte Tätergruppen machten hingegen lediglich 20 Prozent aus.

Diese Zahl kontrastiert zur Kriminalstatistik, die die Täter grossmehrheitlich dem rechtsradikalen Spektrum zuordnet. Hier stellt sich die Frage, ob bei der Untersuchung auch Ereignisse genannt wurden, die strafrechtlich nicht relevant waren. Denn die Befragten gaben an, 79 Prozent der Vorfälle weder der Polizei noch einer anderen Organisation gemeldet zu haben.

Die alte Mär von der Weltherrschaft

Vĕra Jourová, EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucher und Gleichstellung, erklärte: «70 Jahre nach dem Holocaust macht es mich sehr traurig, dass der Antisemitismus nach der Ansicht von neun von zehn Juden in Europa in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Die jüdische Gemeinschaft sollte sich in Europa zu Hause und sicher fühlen, egal ob auf dem Weg zur Synagoge oder beim Surfen im Internet.»

Die Zunahme der Belästigungen und Übergriffe hat viel mit den sozialen Medien und der Fake-News-Kultur zu tun. Im Internet werden viele Verschwörungstheorien verbreitet. Der Tenor: Die Juden seien massgeblich an den vermeintlichen geheimen Mächten beteiligt, die die Weltherrschaft anstrebten.

Neben den Verschwörungstheoretikern mischen auch rechtsradikale Kräfte mit, die dank dem Internet eine effiziente Informationsschlacht lostreten und vom revisionistischen Zeitgeist profitieren konnten.

Leben in der Echokammer

Dabei kriechen ihnen Wutbürger auf den Leim, die mit der herrschenden Politkaste unzufrieden sind und die Grenzen dichtmachen möchten.

Diese Wutbürger bewegen sich in einer Echokammer, die ihre Vorurteile mantramässig verstärkt. Sie indoktrinieren sich in einer Form der Autosuggestion selbst und sind weitgehend immun gegen plausible rationale Argumente. Der Kommentar eines Judenhassers auf Twitter: «Er hätte sie alle ausrotten sollen.» Der Unmensch wird nicht genannt, damit der Tweet nicht gelöscht wird.

epa07199203 Hungarian Prime Minister Viktor Orban during a joint news conference with Czech Prime Minister Andrej Babis (unseen) after their meeting in Prague, Czech Republic, 30 November 2018. Hungar ...
Viktor Orban, ungarischer Premierminister. Bild: EPA/EPA

So klopfen Vorboten eines neuen Faschismus an die Pforten Europas. Regierungen von der Türkei über Ungarn bis Italien leisten diesen Kräften Vorschub. Parteien wie Lega Nord und AfD, die bereits in den Regierungen und Parlamenten sitzen, befeuern rechtsradikale Strömungen.

Im Rest der Welt haben sich Autokraten als Staatspräsidenten eingenistet, die selbst an Verschwörungstheorien glauben und Juden misstrauen – auch wenn sie es selten wagen, öffentlich dazu zu stehen. Schöne neue Welt.

Wir gehen kalten Zeiten entgegen. Da helfen auch ein paar Weihnachtskerzen wenig.

Sektenblog

Alle Storys anzeigen
Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

Du kannst Hugo Stamm auf Facebook und auf Twitter folgen.
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
170 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Snowy
15.12.2018 08:46registriert April 2016
In Frankreich findet gerade ein Massenexodus von Juden statt.

So sehr ich den Frönt National und seine Gesinnungsgenossen verabscheue: Sie tragen dafür nicht die Hauptschuld. Es ist der Sache nicht gedient, wenn wir uns vor dieser Tatsache die Augen verschließen .
38538
Melden
Zum Kommentar
avatar
LeChef
15.12.2018 11:30registriert Januar 2016
Hugo, glaubst du allen Ernstes, dass es sich hier um traditionellen Antisemitismus à la Front National und JM Le Pen handelt? Dieser Antisemitismus stribt aus, weil die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen gute Arbeit geleistet haben. Was wir heute sehen, ist der importierte Antisemitismus aus dem nahen Osten und Nordafrika (der natürlich in gewissem Sinne noch traditioneller ist, als der nazistische), der kulturell so stark in diesen Gesellschaften verwurzelt ist, dass er auch immun gegen Schulbildung ist. Er zieht sich durch die ganze Alterstruktur dieser Familien, inklusive Secondos.
13731
Melden
Zum Kommentar
avatar
*Diesisteinzensurportal*
15.12.2018 09:23registriert Oktober 2018
In den letzten 5 Jahren wurden 79% der europäischen Juden belästigt. Das sind praktisch fast alle. Entweder sind wir dabei uns zu "nazifizieren" oder es hat einen Zusammenhang mit der gestiegen Einwanderung aus muslimischen Ländern. Die Juden sind ja schliesslich die erklärten Totfeinde der fundamentalistischen Moslems. (Wir, die Ungläuibigen übrigens auch. Wir sind einfach noch ein paar mehr.)
Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem. Düstere Aussichten.
11921
Melden
Zum Kommentar
170
Mit diesen KI-Tools fürs Studium sparst du richtig Zeit
Zusammenfassungen erstellen, Präsentationen vorbereiten oder für die Prüfung büffeln – wir stellen nützliche KI-Tools vor, die dir viel Arbeit beim Lernen abnehmen.

Egal, ob du für eine Prüfung büffelst oder einen Vortrag vorbereitest, es gibt neben ChatGPT eine Vielzahl an KI-basierten Tools, die das Studium einfacher und das Lernen effektiver machen. Es lohnt sich, die Möglichkeiten dieser digitalen Helferlein zu nutzen, damit mehr Zeit für das Wesentliche bleibt.

Zur Story