Dies ist die Geschichte eines Wissenschaftlers, dem trotz seines umsichtigen und von penibler Sorgfalt gekennzeichneten Wesens ein Fehler unterlief, den er, sobald er sich seiner gewahr wurde, vertuschte und an dem er schliesslich, an der Geheimhaltung verzweifelnd und am Versuch, jene Versündigung an der Wahrheit zu büssen, zugrunde ging.
Und es ist die Geschichte des Urmeters, dieser allererste Meter der Geschichte, mit dem fortan die Welt vermessen werden sollte. Er ist der nach heutigen Messungen um 0,2 Millimeter zu kurz geratene Urvater unseres metrischen Systems, dessen Geburtsvision es war, allen Menschen für alle Zeiten zu gehören.
Keine willkürlichen, vergänglichen Masse mehr, die sich vom Fusse eines Königs oder dessen Elle ableiteten, die wie kleine Herolde seine Macht jedem Feld, jedem Tuch und jedem Gerstenkorn in seinem Reich verkündeten.
Die Französische Revolution räumte mit allem auf, was ans Ancien Régime gemahnte. Die neue Weltformel sollte für alle Menschen gleichermassen Gültigkeit besitzen. In ihr, so träumte man, würden sich Berechnungen anstellen lassen, die über die Landesgrenzen hinaus die Wissenschaften voranbringen würden und den Handel zum Blühen brächten.
Jene Reform der Masse und Gewichte in Angriff zu nehmen, wurde im Jahr 1791 zur Aufgabe der Akademie der Wissenschaften in Paris. Ein einheitliches, in sich geschlossenes System musste her, ein natürlich gegliedertes Ganzes, dessen Basis der Meter – vom griechischen métron (μέτρον), dem rechten Mass – werden würde.
Jener «Verwurzelung in den Massverhältnissen der Erde» musste 80 Jahre zuvor erst Genüge getan werden, um die Länge eines solch universell gültigen Meters überhaupt bestimmen zu können.
Und so machten sich zwei französische Astronomen auf den Weg, die Strecke vom Nordpol zum Äquator zu ermitteln, die Länge des halben damaligen Nullmeridians, der direkt durch das Pariser Observatorium führte. Diese Linie verbindet all die Orte, an denen die Sonne zur gleichen Zeit ihren mittäglichen Höchststand erreicht.
Wahrhaftig zu messen galt es für die Männer die Strecke zwischen Dünkirchen im Norden und Barcelona im Süden, den Rest bis hinauf zum Nordpol und hinunter zum Äquator liess sich mittels komplexer Kalkulation hochrechnen, und schliesslich sollte durch simple Division jener Zahl dann der Meter zu bestimmen sein: Im zehnmillionsten Teil jener Strecke nämlich würde sich der Urmeter zeigen.
Im Sommer 1792 verliess Jean-Baptiste Joseph Delambre Paris in Richtung Norden, Pierre-François-André Méchains Ziel war das südlich gelegene Barcelona. In ihren Kutschen befanden sich ihre fähigen Gehilfen, Bordakreise zur Messung von Winkelgraden und andere Instrumente, die ihnen die für die Mission nötigen Landvermessungen ermöglichten. Triangulierend zogen sie durchs Land, ein Land, das sich gerade im Krieg befand mit einer Vielzahl seiner europäischen Machtrivalen. Die preussischen Truppen drangen nach Paris vor, bis sie bei Valmy von den Kanonen der Revolutionsarmee gestoppt wurden. Am 21. September war die Monarchie in Frankreich abgeschafft. Und sein bis dahin amtierender König Louis XVI. wurde rund vier Monate später, am 21. Januar 1793, geköpft.
In Robespierres «Tugendstaat» musste «das Volk durch Vernunft geleitet und die Feinde des Volkes durch terreur beherrscht» werden.
Schon bevor Frankreich sich mit dem so lange verbündeten und durch die Bourbonenlinie verwandten Spanien im Krieg wiederfand, war es für Méchain schwierig gewesen, seine Vermessungen durchzuführen. Irgendwo entlang der Bergkämme der Pyrenäen verlief die Grenze zu Spanien, genaue Karten dieser Gegend existierten nicht, was nichts Geringeres hiess, als dass die Machtverhältnisse hier noch nicht klar definiert worden waren.
Die Bewohner auf beiden Seiten des Hanges sprachen Katalanisch und liessen sich weder von Paris noch von Madrid etwas sagen. Die «Miquelets», die lokalen Gebirgsjäger, herrschten hier – und handelten mit illegalen Büchern, Tabak und Schusswaffen. Für eine wissenschaftliche Expedition, die von beiden Nationen unterstützt wurde und «dem höchsten Streben der Menschheit nach universeller Erkenntnis und friedlichem Handel» diente, hatte man hier wenig übrig. Vor allem, wenn der offizielle Auftrag, der den kleinen, dunkelhaarigen Astronomen hierherführte und den er in Form eines Schreibens den misstrauischen Bergdörflern unter die Nase hielt, von einem König unterzeichnet worden war, der nicht mehr regierte – und bald auch nicht mehr lebte.
Aus den ursprünglich geplanten sieben Monaten für das Unterfangen wurden sieben Jahre. Der Krieg tobte zwei Jahre lang durch die Pyrenäen, tausende von Soldaten, Milizen und Miquelets starben im Namen einer mit Blut gezogenen und mit Waffen verteidigten Grenze, die die Wissenschaft noch nicht gezogen hatte.
Méchain, der bis zum Ausbruch des Krieges im Castell de Montjuïc in Barcelona stationiert war, musste mit seinem Observatorium vom Berg hinunter in die Stadt ziehen. Als Franzose wurde er in der wichtigsten Festung an der spanischen Mittelmeerküste nicht länger geduldet. Er zog ins Herz von Katalonien, ins Gasthaus Fontana de Oro, das mitten an der Rambla lag.
Und dort, rücklings auf der Terrasse liegend und jeden klaren Nachthimmel beobachtend, der sich ihm im Dezember, im Januar, Februar und März darbot, machte er eine grausige Entdeckung: Seine 910 Sternmessungen, von denen er jede mindestens zehn Mal wiederholte, seine insgesamt also etwa zehntausend Beobachtungen, durch die er sich mit Hilfe seiner Refraktionstabellen kämpfte, schienen am Ende dasselbe schiefe Bild zu ergeben, das sich bereits in seinen Berechnungen zum Breitengrad vom Castell de Montjuïc gezeigt hatten. Dafür hatte er die Höhen von vier verschiedenen Sternen gemessen. Die Ergebnisse von Polaris, Thuban und Kochab stimmten in bemerkenswertem Masse überein.
Méchain war es gelungen, die globale Position des Festungsturmes bis auf dreissig Fuss genau zu bestimmen. Welch Demonstration astronomischer Virtuosität! Wäre da nicht Mizar, der vierte Stern, dessen Breitengrad-Ergebnisse ganze vierhundert Fuss von den anderen abwichen.
Warum?
Die Frage liess den Astronomen nicht mehr los. Méchain war ein äusserst exakter Mensch, aber seine Genauigkeit war keine kalte, berechnende, sie war im Gegenteil einer sehr heissen Quelle entsprungen, seiner geradezu obsessiven Liebe zur Materie. Er liebte die Naturwissenschaften und hatte nie geglaubt, mit seinem Schaffen wirklich zu Ruhm zu gelangen. Er war wie viele Leute, die von unten kamen. Stets bereit, ein bisschen mehr zu geben. Da war wenig Selbstgerechtigkeit in ihm, vielmehr nagende Zweifel und unermüdliches Denken, um diese wieder zu zerstreuen.
So wurde er zu einem der führenden Astronomen Frankreichs, zum Entdecker von elf Kometen, zum Kartografen der französischen Küstenlinie, zum Leiter der südlichen Meridianexpedition und zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften, die inzwischen Robespierres Säuberung zum Opfer gefallen war. Dies musste er den Zeitungen entnehmen, denn die Briefe aus der Heimat waren seit neun Monaten nicht mehr zu ihm durchgekommen. Und womöglich war mit der Akademie gleich auch sein Auftrag gestrichen worden.
Méchain aber war ein Mann, der die Dinge zu Ende bringen wollte. Jetzt noch mehr denn je. War ihm tatsächlich ein Messfehler unterlaufen? Hatte er sich irgendwo verrechnet?
Um das herauszufinden, musste er noch einmal zurück auf den Festungsturm auf dem Montjuïc. Er brauchte Winkelmessungen, um eine Triangulation vornehmen und so die Breitengrad-Ergebnisse seines Gasthauses und die der Festung vergleichen zu können. Und obwohl das Castell Sperrzone für ihn war, schaffte er es, den Kommandanten dazu zu überreden, ihm für einen Tag Zutritt zum Beobachtungsturm zu gewähren.
Es war Sonntag, der 16. März 1794, ein leicht bewölkter Frühlingstag, als Méchain mit seinem Bordakreis die Treppen zum Turm hochstieg, während weit unter ihm im Kerker mehrere hundert seiner gefangen gesetzten Mitbürger schmachteten. Zurück im Hotel beginnt er fiebrig zu rechnen.
Die Verfehlung betrug 3,2 Bogensekunden. Nicht 3,2 Sekunden, die sich auf die 600 Meilen (1000 Kilometer) zwischen Montjuïc und Dünkirchen verteilten, was eine unbedeutende Abweichung von 0,01 Prozent bedeutet hätte, sondern 3,2 Sekunden auf einer Strecke von 1,1 Meilen (1,8 Kilometer), was eine Diskrepanz von 5,4 Prozent ergibt. Sprich, Méchains Durchschnittsresultate wichen um erschreckende drei- bis vierhundert Fuss voneinander ab.
Und er wusste nicht, wo der Fehler sich versteckte. Er wusste nur, dass da einer seiner musste. Und dass er sich schon längst auf dem Weg zu seinen Kollegen nach Paris befand, um dort den obersten Massstab für alle Menschen aller Zeiten zu bestimmen.
Der Meter, der daraus berechnet werden würde, wäre fehlerhaft! Ruiniert, das hehre Ziel seiner universellen Gültigkeit! Und mit ihm auch gleich Méchains Ruf, seine Ehre, sein ganzes bisheriges Schaffen drohte jenem Versagen anheimzufallen.
Was sollte er tun? Nachmessungen auf dem Castell waren nicht mehr möglich, und wenn er jene Unstimmigkeit nicht zugeben wollte, hatte er keinen Grund, sich länger in einer Stadt aufzuhalten, wo seine Anwesenheit nicht erwünscht war. Seine Arbeit in Barcelona war getan, die Messungen abgeschlossen. Bliebe er weiter hier, musste dies der Pariser Führungsriege verräterisch erscheinen, am Ende würde seine Frau noch festgenommen, und was geschähe dann mit seinen drei Kindern?
Der Astronom flüchtete ins neutrale Italien, nach Genua, seine quälenden Gedanken im Gepäck, während sich die Ereignisse in Paris überschlugen; der Terror drang bis an die Tore seines Zuhauses im Observatorium – Verrat und Exekution trafen viele seiner ihm lieben Kollegen, und liessen ihn bangen um das Leben seiner Familie.
Und was seine Meridianexpedition betraf, so wurde sie erst abgesetzt und wenig später wieder neu in Auftrag gegeben. Beides war für Méchain gleichermassen unerträglich: Als seine Arbeit für nichtig erklärt wurde, entpuppte sich sein «Ehrgeiz, nützlich zu sein und ein wenig Ruhm zu erlangen, als eitle Phantasie», dafür war damit auch die unerklärliche Unstimmigkeit getilgt. Und nun, da er seine Mission wieder aufnehmen sollte, bestimmte ebenjene wieder all sein Denken, wog zentnerschwer auf seinem Gewissen und stürzte ihn in eine derart tiefe und lähmende Verzweiflung, dass er dem Ruf, nach Paris zurückzukommen, nicht zu folgen vermochte.
Die Melancholie – die Depression des 18. Jahrhunderts – machte ihn wortkarg, düster, misstrauisch und einsam. Die fauligen Wurzeln von Méchains seelischem Befinden aber lagen in seinem Dilemma: Er vertraute niemandem mehr, weil er sich selbst nicht mehr traute. Und er witterte überall Verschwörung, weil er in sich selbst ein Geheimnis verwahrte.
Der Frühling 1795 brachte den Frieden, zumindest den zwischen Frankreich auf der einen und Preussen und Spanien auf der anderen Seite. Damit gestaltete sich das Vorankommen aber nicht unbedingt einfacher. Hyperinflation, eisige Gipfel, auf denen das Fett des Bordakreises in der Kälte gerann, und Nächte in Kuhställen ohne Kerzenlicht erschwerten Méchain neben seinen Gewissensbissen das Leben. Er kam in Perpignan – jene in einer Ebene zwischen den Pyrenäen und dem Corbières-Gebirge liegenden Stadt – nicht voran, während sich Delambre im Norden, wie Méchain selbst nicht ohne Eifersucht vermerkte, «mit der Schnelligkeit eines Adlers» auf ihn zubewegte, «nachdem er bereits fast ganz Frankreich durchquert hat».
Die beiden Astronomen schrieben einander Briefe, bald sollten sie in Rodez zusammentreffen, um endlich ihre Dreiecke zu verbinden. Méchain begrub seinen Fehler unter einer Tonne freundlicher Worte für Delambre, der bald vom Kollegen zum Freund wurde, dessen Loyalität er sich aber immer wieder bange zu versichern versuchte.
Dann wieder schrieb er Delambre, er möge seine Briefe verbrennen.
Sein Mut hatte ihn verlassen. Er sass in Carcassonne und brütete über Mizar, diesem einen vermaledeiten Stern, der ihm den Weg ins Verderben gewiesen hatte. Méchain hätte über den Winter nach Paris zurückkehren können zu seiner Familie, die inzwischen in ein grösseres Haus auf dem Observatoriumsgelände gezogen war. Er hätte zur Ruhe kommen können, doch stattdessen schrieb er Delambre von seinem Vorhaben, abermals nach Barcelona zu reisen.
Jedes Opfer würde er bringen, um seine Arbeit zu beenden. Und dürfe er dies nicht, so würde er nie wieder zurückkehren.
Seinem Vorhaben wurde jedoch nicht stattgegeben, wie auch, niemand verstand, warum es Méchain noch einmal in diese Stadt zog, wo er all seine Messungen doch schon längst vorgenommen hatte. Und so blieb der Verzweifelte doch in Carcassonne, verschanzte sich dort, gab seine Daten nicht an Delambre weiter und brach auch nicht, wie versprochen, gen Norden nach Rodez auf, wo sie sich treffen wollten.
Delambre seinerseits erreichte das Ziel am 26. August 1797 – und schrieb in sein Logbuch die Inschrift aus Vergils «Aeneis»: «Hic labor extremus, longarum haec meta viarum» (Dies ist die letzte Arbeit und das Ende langer Reisen).
Niemand kannte den wahren Grund für Méchains Drangsal, sein elendes Zögern und jene tief sitzende Scham, von der einzig der Tod ihn noch zu erlösen versprach.
Die Einzige, die Méchain nun noch zur Vernunft bringen konnte, war seine Frau. Also bat Delambre sie, herzukommen. Und Barbe-Thérèse Marjou kam, nachdem sie dem Astronomen das Versprechen abgerungen hatte, absolutes Stillschweigen über ihre Rolle in der Sache zu bewahren. Sie wollte nicht, dass das Ansehen ihres Mannes geschmälert oder sein Verdienst gar belächelt wurde, bloss weil seine Gattin ihm zu Hilfe eilen musste.
Madame Méchain war keine Frau, die den Sorgen ihres Mannes lauschte, ohne den Inhalt wahrhaft zu verstehen. Sie war selbst Wissenschaftlerin und hatte ihn vor der Revolution oft in seiner Arbeit unterstützt. Sie würde auch die astronomischen Ausmasse verstehen, die die Abweichung in seinen Resultaten nach sich zog.
Nur, hatte Méchain ihr überhaupt gebeichtet, was ihm so schwer auf der Seele lastete, als er sie an diesem 7. Juli 1798 vor der Kathedrale von Rodez nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder sah?
Wer weiss. Sie vollendete jedenfalls das alles bestimmende Dreieck, indem sie die fehlende Verbindung zwischen den beiden Männern herstellte. Und sie schaffte es, dass sich Méchain selbst wieder an seine eigenen Dreiecke machte, dass er wieder zu triangulieren begann, um sich dann schliesslich mit Delambre in Perpignan zu treffen.
Fünf Stationen hatte Méchain noch zu messen, noch zwei Monate blieben ihm dafür, dann sollte die internationale Konferenz in Paris starten, die den finalen Meter aus all ihren mühselig erbrachten Messungen berechnen würde. Aus unzerstörbarem Platin würde jenes Endmass schliesslich gegossen werden, ein physischer Ausdruck seines jahrelangen Abarbeitens an jenem Stücklein Längenkreis. Vielleicht aber würde er auch einfach der Metallriemen sein, der seine Schande für die Ewigkeit festhielt.
Die Zeit drängte.
Delambre und sein Team machten sich derweil in Perpignan mit ihren Platin-Linealen daran, die Basislinie für ihre Dreiecke zu messen. Dafür anerbot sich die heutige A9, die Autobahn La Languedocienne, die Frankreich und Spanien verbindet. Ursprünglich eine geradlinige römische Strasse, die Hannibal vor zweitausend Jahren als Invasionsroute gedient hatte. Danach wurde sie von mittelalterlichen Landvermessern angepasst, von Ingenieuren des Ancien Régime in eine der prächtigen route royale verwandelt und bei Delambres Ankunft schliesslich von republikanischen Strassenbauern verstärkt, um grösserem Verkehr gerecht zu werden.
Die Aufgabe der Assistenten war es, die Lineale von den feurigen Böen des Scirocco und der Hitze einer unerbittlichen Sonne zu beschützen, denn erstere machte ihre korrekte Ausrichtung zunichte, zweitere brachte ihnen Überhitzung und liess sie sich ausdehnen. Delambre sass derweil in der schattigen Kutsche und rechnete den kleinen Knick in der Strassenlinie weg, die Brücke über den Fluss Agly und korrigierte den Höhenunterschied von 48 Fuss von einem Endpunkt zum anderen.
Am 19. September, Delambres 49. Geburtstag, war die beschwerliche Arbeit geschafft.
«Nur ein Hindernis hält mich wider Willen zurück ...», schrieb Delambre nach Paris, «Méchain.» Er konnte nicht alleine nach Paris zurückkehren, sie waren gemeinsam auf diese Mission gegangen, gemeinsam mussten sie von ihr zurückkehren. Méchain vertröstete seinen ausharrenden Freund immer und immer wieder, doch schliesslich konnte er nicht mehr länger auf sich warten lassen, er hätte Delambres Ruhm gleich mitzerstört, ihn um seinen Moment des Glanzes gebracht. Er konnte sich in jenem Moment nicht anmassen, den Ausgang der Mission an sich zu reissen, aus einem Erfolg für ihn ein gemeinsames Scheitern zu machen wegen eines Fehlers, den er nicht willentlich begangen und für den er nach wie vor noch keine Erklärung hatte.
Méchain musste Delambre nach Paris begleiten, auch wenn ihn der Kreis der Gelehrten dort wegen seines erbärmlichen Verhaltens nur mit «Vorwürfen, Verachtung und Geringschätzung» begrüssen würde. Der einzige Kreis, der ihn noch zu interessieren schien, war derjenige, den er um sich selbst zog. Ausgezogen, die Welt zu vermessen, war sein Radius seit seiner Entdeckung im Gasthaus Fontana de Oro zusammengeschmolzen auf sein eigenes, sich zunehmend verhasstes Ich.
Doch so sehr seine Zweifel auch an ihm nagten, seinen Ruf hatten sie noch nicht zerfressen können. Méchain kehrte am 15. November 1798 als Held in die französische Hauptstadt zurück. Er wurde zum Direktor des Observatoriums ernannt, die höchste Ehre der französischen Astronomie.
Wieder versuchte er, dem Unweigerlichen auszuweichen und dem internationalen Gremium seine gesammelten geodätischen Daten vorzuenthalten. Und wieder tat es ihm der treue Delambre gleich, bis es nicht mehr ging. Bis die Gerüchte von einer verpfuschten Mission und miserablen Daten den dänischen Astronomen Thomas Bugge nach drei Monaten untätigen Wartens dazu veranlassten, nach Hause zu dringlicheren Pflichten zurückzukehren.
Am 2. Februar 1799 legte Delambre sein Logbuch der Internationalen Kommission vor, die jedes noch so winzige Winkelchen ausleuchtete. Die Männer hatten Fragen zu jeder Station, zu jeder Beobachtung, nur um am Ende doch fast alles gutzuheissen. Was blieb ihnen auch anderes übrig, als jenen in schwarzer Tinte niedergeschriebenen Zahlen Glauben zu schenken? Einer Reliquie gleich umgab sie etwas fast Heiliges, sie waren die Überbleibsel der mehr als widrigen Reise eines Spitzenastronomen, die niemand zu wiederholen wagte und die mit dem frommen Ziel unternommen worden war, ein die Weltgemeinschaft verbindendes Mass zu schaffen.
Und so konnte die Kommission schliesslich auch in Méchains Aufzeichnungen nichts Zweifelhaftes finden, allerdings händigte er ihr nur seine Zusammenfassungen aus, seine originalen Daten hielt er zurück.
Die Herren stellten fest, dass selbst seine Breitengrad-Daten vom Castell de Montjuïc und der Fontana de Oro in hervorragender Ordnung und in bemerkenswerter Übereinstimmung miteinander waren. Und als Méchain sie ersuchte, die Daten der Fontana de Oro als redundant beiseite zu legen und nur jene vom Castell zu verwenden, stimmten sie seinem Anliegen zu.
Wie war das möglich? Was hatte Méchain getan, damit die Unstimmigkeiten in eben jenen Messungen nicht nur unentdeckt blieben, sondern seine Arbeit am Ende als Meisterwerk astronomischer Präzision gefeiert wurde, die Delambres Daten gar als weniger exakt, weniger akribisch, ja weniger gewissenhaft wirken liessen?
Die Freundschaft der beiden Männer zerbrach auf dem harten Boden der französischen Hauptstadt. Sie wurde der Eitelkeit und dem Wetteifern geopfert, zwei im Menschen stets sehr ertragreiche, aber ebenso zerstörerisch wirkende Kräfte, die das Tun der beiden Heimgekehrten nun zu bestimmen schienen. Delambre wurde Direktor der von Napoleon neu geordneten Akademie der Wissenschaften und verlangte als solcher endlich die originalen Daten seines Expeditionspartners für sein Buch, in dem er alles zu veröffentlichen gedachte: «Base du système métrique décimal, ou Mesure de l'arc du méridien compris entre les parallèles de Dunkerque et Barcelone» würde sein Titel lauten und drei dicke Bände umfassen.
Doch Méchain rückte sie noch immer nicht raus. Stattdessen machte er sich mit Napoleons Genehmigung auf eine weitere Expedition, um den Meridian südlich von Barcelona bis zu den Balearen auszudehnen. Das war schon lange sein sehnlich gehegter Wunsch, nur hatte er jetzt mehr Grund denn je.
Auf diese Weise konnte er nämlich die widersprüchlichen Breitengrade von Barcelona überspringen und einen neuen, sicheren Anker für den Meridian setzen. Und dies, bevor jemand anderes feststellte, dass seine veröffentlichten Ergebnisse nicht stimmten. Schliesslich hatte sich ein gewisser Alexander von Humboldt schon auf den Weg gemacht, die Welt zu vermessen, und stellte zu Ehren des berühmten Méchain seinen Bordakreis ausgerechnet auf die Terrasse des Fontana de Oro in Barcelona, um sich eine Nacht lang dem Himmel dort zu widmen.
Am 5. Mai 1803 machte sich Pierre-François-André Méchain auf die Reise, von der er nicht zurückkehren würde. Eine Reise, bei der alles schiefging und an deren Ende ein Röcheln stand, das am 20. September 1804 um fünf Uhr morgens in einem Krankenbett in der spanischen Stadt Castelló de la Plana aussetzte. Das Dreitagefieber, wie man die Malaria tertiana wegen ihres fieberfreien Intervalls von etwa 48 Stunden damals nannte, hatte den rasselnden Atem des Astronomen zum Stillstand gebracht.
Geblieben war einzig ein Koffer voller loser Papiere. Ein ganzes Leben, ausgedrückt in geodätischen Daten, in Berechnungen und Himmelsbeobachtungen. Ein in Bleistift verfasstes Leben, als wär es ein blosser Entwurf, stets bereit, verändert und verbessert – oder ausradiert – zu werden.
Und ebenso fein zeichnete Delambre auch das Bild seines Expeditionspartners auf der Trauerfeier für dessen Familie: ein Mann, der die Endgültigkeit der gedruckten Seite stets gefürchtet habe, weil er sich nie zufriedengab mit seinen Ergebnissen, sie nie für ausreichend perfektioniert hielt. Méchain sei ein Märtyrer der endlosen Suche nach Präzision gewesen.
Und sicher hatte er recht damit. Aber es war nicht der einzige Grund, warum Méchain seine Notizen wie ein Provisorium verfasst hatte. Den anderen fand Delambre beim Durcharbeiten des ungeordneten Blätterstapels, um den er Méchain so viele Male vergeblich gebeten und den er erst jetzt, aus den Händen von dessen Sohn Augustin, empfangen hatte.
Delambre entdeckte nicht nur die Diskrepanz zwischen den beiden Breitengradmessungen von Barcelona, er sah auch, wie Méchain systematisch versucht hatte, diese Diskrepanz zu vertuschen. Er hatte Beobachtungen unterdrückt, Werte ausradiert, andere kopiert und so frisiert, dass sie wie Originale aussahen, während die echten verschwunden waren.
Delambre machte aus dem Durcheinander Ordnung, klebte die losen Seiten in chronologischer Reihenfolge in einen gebundenen Band, machte aus Méchains Bleistifthinterlassenschaft eine für alle Zeiten unabänderliche Tintenbotschaft und fügte Randnotizen hinzu, um seine Rekonstruktionen zu erklären.
Schliesslich stellte sich heraus, dass Méchains Änderungen das Endergebnis nicht verändert hatten. Sie hatten also keinerlei Schaden anrichten können. Das Ziel von Méchains manipulierten Zahlen bestand vielmehr darin, dass seine Daten präziser und konsistenter erschienen, als sie tatsächlich waren. Vor allem aber präziser und konsistenter als jene von Delambre.
Das hatte er erreicht. Der Internationalen Kommission erschien Delambre als der weniger sorgfältige Astronom, während sie Méchains Fontana-de-Oro-Betrug sogar aus den Aufzeichnungen herauszustreichen gewillt war. Denn in seinem neuen, massgeschneiderten Gewand erregte er keinerlei Verdacht, sondern schien im Gegenteil, bloss noch einmal, ganz unnötigerweise, die genauen Masse seiner hinlänglich bekannten Präzisionsarbeit zu wiederholen.
Inmitten dieses Schwindels erkannte Delambre immerhin den Versuch seines verstorbenen Kollegen, die verfälschten Daten aus der endgültigen Bestimmung des Messgeräts herauszuhalten. Méchain hatte den Urmeter nicht verraten.
Er hatte ihn von seinen Unstimmigkeiten rein behalten wollen. Darum behandelte Delambre Méchains widersprüchliche Daten auch nicht als Skandal, sondern als Entdeckung. Im zweiten Band seiner Base du système métrique décimal (1807) schreibt er neben die widersprüchlichen Daten des Castells von Montjuïc und dem Gasthaus Fontana de Oro: «Die verbleibende Diskrepanz von 3,2 Sekunden ist eine Tatsache, die der vollen Aufmerksamkeit der Astronomen würdig ist.»
Und das war sie auch. Denn wer oder was schliesslich für die Unstimmigkeit verantwortlich war, blieb noch immer ungeklärt. Waren es die Sterne oder die Erde? Das Instrument oder die Methode? Oder lag es am Beobachter selbst? Und was, wenn die vermeintliche Diskrepanz am Ende überhaupt keine war?
Méchain jedenfalls hielt sie für einen Fehler. Für seinen Fehler – und behielt ihn darum für sich. Seine ganze wissenschaftliche Arbeit hielt er für sein Privateigentum und schleppte sie bis zu seinem Ende im Koffer mit sich rum. Delambre hingegen fühlte sich seinen Geldgebern, seinen Kollegen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet und führte sein Logbuch so, dass seine Aufzeichnungen jederzeit von den Augen der Welt eingesehen, nachvollzogen und geprüft werden konnten.
Delambre wusste, dass er kein exaktes und für alle Zeiten gültiges Ergebnis liefern konnte. Seine Näherungswerte waren genug, um der Aufgabe der Expedition gerecht zu werden. Er wusste um die Vergänglichkeit irdischen Wissens. Und er verstand, dass sich Méchain umsonst gequält hatte. Dass der Bogen, der wirklich zählte, nicht bis über die Balearen zu spannen war, sondern bloss über seine eigene Lebenszeit hinaus gedacht werden musste.
Denn schliesslich offenbarte die Expedition vor allem eine wirkliche Neuheit: dass nicht alle Meridiane gleich lang waren. Der Meridian, der durch Paris verlief, war nicht gleich lang wie die Meridiane, die durch Greenwich, Monticello oder Rom verliefen.
Seit hundert Jahren wussten die Gelehrten bereits, dass die Oberfläche der Erde nicht glatt war und ihre Form keine perfekte Kugel, sondern an den Polen abgeflacht ist. In den letzten Jahrzehnten geriet sie zudem in Verdacht, nicht einmal die Figur eines Ellipsoids zu haben, sondern mehr eierförmig zu sein und sich auch nicht hübsch symmetrisch um ihre eigene Achse zu drehen. Der Planet, auf dem wir leben, ist stellenweise verzogen, gekrümmt und gebogen und gleicht vielmehr einer unförmigen Kartoffel, mit allerlei Beulen und Dellen.
Was für eine Entdeckung! Nur widerlegte sie die Leitprämisse der gesamten Mission. Der Meridian, zu dessen Ausmessung Méchain und Delambre ausgesandt worden waren, sollte doch stellvertretend für alle Meridiane der Erde stehen. Nur so würde er ein universell gültiges Mass liefern können, ein, wenn man so wollte, gerechtes Mass, um allen Menschen zu allen Zeiten zu gehören. Jetzt aber stellte sich die Welt als zu unregelmässig heraus. Als zu widerspenstig. Als wollte sie sich von den Menschen nicht in eine Formel pressen lassen. Zu keiner Zeit, aber besonders nicht zu einer, in der eine Revolution von sich behauptet hatte, Gleichheit in die Welt zu bringen. Denn die gab es hier nicht einmal an der Oberfläche.
Der Platinbarren – jene metallene Verkörperung des zehnmillionsten Teils des von Méchain und Delambre errechneten Pariser Meridians –, der 1799 in einer feierlichen Zeremonie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war also ein Lügenbalken. Zumindest, was seine Eignung als Weltmass betraf. Traurig zitierte der Präsident der Sammlung die mahnenden Worte von Jean-Jacques Rousseau: «Die Menschen werden immer eine schlechtere Art des Wissens einer besseren Art des Lernens vorziehen.» Und damit legte er den Urmeter in eine dreifach verschlossene Kiste und verwahrte ihn im Nationalarchiv.
Von dort aus begann er seinen anfänglich etwas harzig verlaufenden Siegeszug für das metrische System, setzte den Massstab, der bald für die ganze Welt gelten sollte, ausser da, wo die angloamerikanischen Units sich bis heute tapfer halten.
Ihm selbst sind die Jahre seines Kampfes an die Substanz gegangen, seine Endflächen sind beschädigt. So versehrt liegt er heute im Tresor des Bureau International des Poids et Mesures (BIPM), das im Pavillon de Breteuil in Sèvres, einem Vorort von Paris, residiert. Allmählich vor sich hinschrumpfend und verstaubend, denn auch er ist, anders als anfänglich gedacht, nicht für die Ewigkeit geschaffen.
Seit 1983 bindet man den Meter, um ihn endgültig festzunageln, an eine Naturkonstante, an den durch Raum und Zeit unveränderlichen Wert der Lichtgeschwindigkeit. So wurde er zur Entfernung, die Licht im Vakuum während einer 299.792.458stel-Sekunde zurücklegt.