In einem Hinterhof beugen sich ukrainische Zivilisten über aufgereihte Glasflaschen, füllen mit Plastiktrichtern Brennstoff hinein, fügen geraffelte Styroporkügelchen hinzu. Das sei wichtig, damit der Brennstoff am «Ziel» kleben bleibe. Solche Details erfährt nun, wer nie auch nur daran dachte, selbst eine Waffe zu bauen. Das ukrainische Verteidigungsministerium selbst hat vor einer Woche der Bevölkerung empfohlen, Molotowcocktails zu basteln. Seither werden Altglas, zerrissene Küchentücher für die Lunte, dazu Benzin, Sprit oder Schwefelsäure angeschafft.
Währenddessen wurden auf ukrainischem Boden russische Raketenwerfer gesichtet, mit den riesigen gelöcherten Mündungen: Vakuumbomber mit thermobaren Sprengköpfen. Solche löschen nicht nur Leben innerhalb ihrer Feuerkugel aus, sondern saugen in grossem Umkreis allen Sauerstoff ab, was zum Erstickungstod führt.
>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker
Moderne Vernichtungsmaschinen gegen Glasflaschen. «Mit Molotowcocktails moderne Kampfpanzer anzugreifen, ist selbstmörderisch», sagte diese Woche Kriegshistoriker Roland Popp von der ETH-Militärakademie gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Am wahrscheinlichsten sei es, dass man bei der Verwendung sterbe, Zivilisten sollte davon abgeraten werden, zur Waffe zu greifen.
Doch wenn die Gefahr gross ist, wer bleibt dann ruhig sitzen? Die Ukrainer sind nicht die Ersten, die mit einfachen Mitteln eine verzweifelte Verteidigung vorbereiten: Molotowcocktails haben eine lange Tradition. Und so lächerlich eine mit Sprit gefüllte Flasche neben einem thermobaren Sprengkopf wirken mag – Molotowcocktails können, so einfach sie herzustellen sind, viel Schaden anrichten.
Noch in den 70er-Jahren übten die Rekruten der Schweizer Armee das Werfen dieser Flaschen mit Holz-Attrappen und lernten: Immer auf den Motor des Panzers zielen, damit der Sprit möglichst in die Öffnung für die Sauerstoffzufuhr fliesst. Da Panzer langsam unterwegs sind, sind sie gute Zielscheiben. Fraglich ist, ob auch moderne Geschütze solche Schwachstellen haben. Zerschellt eine solche Flasche an einer Person, können die Verbrennungen schnell tödlich sein.
Der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman machte mit einem Youtube-Video seinen Landsleuten vor, wie die Herstellung geht. Manche wissen es noch von der Strassenrevolution von 2013/14, dem Euromaidan, wo die Bevölkerung für ein Abkommen mit der EU protestierte und schliesslich der amtierende Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt wurde.
Auch Brauereien in der Ukraine machen nun offenbar im grossen Stil bei dieser Aufrüstung mit. Das erinnert an die Entstehung des Begriffs im Winterkrieg zwischen der Sowjetunion und Finnland 1939/40. Flaschen mit Brennstoff wurden zwar schon seit Jahrhunderten verwendet – dokumentiert wurden sie zum Beispiel von einem Arbeiteraufstand 1863 in New York, wie die deutsche Zeitschrift «Spiegel» schreibt.
Aber erst durch die Finnen kam die Brennstoffflasche zu ihrem bekannten Namen: Auf Finnisch tönt «molotow» ähnlich wie das Verb «molottaa», was herumkrakeelen bedeutet. Die Finnen machten sich auch deswegen über den sowjetischen Aussenminister Molotow lustig. Auf Russisch bedeutet das Wort «Hammer». Es war eigentlich der alte Deckname von Wjatscheslaw Michailowitsch Skrjabin, der sich jung den kommunistischen Bolschewiken angeschlossen hatte und später unter Stalin Premierminister wurde.
Im Winterkrieg warfen Flugzeuge der Roten Armee Streubomben auf finnische Städte. In einer Radioansprache hatte Molotow behauptet, dies seien Nahrungsmittel für die hungernde Bevölkerung. Diesen «Molotow-Brotkörben» hielten die Finnen dann die «Cocktails für Molotow» entgegen.
Wie die Ukrainer den Russen, waren die Finnen der Sowjetunion zahlen- und ausrüstungsmässig deutlich unterlegen. Auch damals stellte die staatliche Alkoholfirma diese Brandsätze in Massenproduktion her. Damit konnte der Angriff der Roten Armee zuerst überraschenderweise gestoppt werden. Erst nach Verstärkungen und neuen Taktiken durchbrachen die Sowjets nach zwei Monaten schliesslich im Februar 1940 die finnischen Stellungen. Am 13. März einigten sich beide Länder im Friedensvertrag von Moskau. Finnland blieb souverän, musste aber grosse Gebiete abtreten.
Die «Rezepte» der Molotowcocktails wurden verfeinert, manche brauchen kein brennendes Ende und entzünden sich erst beim Aufprall. Sie blieben populär als improvisierte Waffe in Konflikten aller Art. Selten werden sie noch heute auch in Schweizer Kellern gebastelt, meist von extremen Gruppierungen, zur Verwendung an Demonstrationen wie den Jugendunruhen in den 80ern – oder schlicht um Krawall zu machen.
Das letzte Mal war dies an den sogenannten Osterkrawallen in St. Gallen der Fall, an zwei Freitagen Ende März und Anfang April 2021. Während der geltenden Corona-Pandemiemassnahmen hatte eine illegale Party von rund hundert Personen stattgefunden.
Nachdem diese aufgelöst worden war, versammelten sich über zweihundert Personen auf dem Roten Platz in St. Gallen und die Stimmung wurde aggressiv. Während der darauffolgenden Ausschreitungen am Karfreitag wurde die Polizei mit Steinen, Pyro-Feuerwerk und Molotowcocktails beworfen. Zwei Privatpersonen wurden verletzt.
Polizeisprecher Hanspeter Krüsi sagt dazu:
Die Wirkung sei bei Menschenansammlungen verheerend, weil Benzin in alle Richtungen spritze. Brände und vor allem brennende Menschen gehören zu den fürchterlichsten Bildern aus Konflikten. Möglich, dass Molotowcocktails auch wegen dieses Effekts bewusst eingesetzt werden.
Am Mittwoch versuchten Bewohner der südukrainischen Stadt Cherson, ihre Stadt mit Molotowcocktails zu verteidigen. Offenbar mit wenig Erfolg: Ein Berater des Innenministeriums sagte, dabei habe es unter den Zivilisten zahlreiche Tote gegeben.
Andernorts bewirken die Flaschen, Trichter und Styropor-Raffeln wenigstens dies: Sie vertreiben die Ohnmacht der eingekesselten ukrainischen Bevölkerung.
Putin wird vielleicht den Krieg gewinnen, jedoch mit so hohem Blutzoll
Die Bevölkerung wird sich immer gegen ihn wehren. Somit wird der Krieg Russland auf Jahre hinaus schwächen.