Gibt es jemanden, der das hier liest und noch nie ein Selfie gemacht hat? Die Wahrscheinlichkeit ist gering: Jeden Tag werden angeblich 92 Millionen Selfies geknipst. Ein Foto von sich selbst zu machen – und allenfalls in den sozialen Medien zu veröffentlichen – ist völlig normal, seit Smartphones omnipräsent sind. Das Wort tauchte bereits 2002 in einem australischen Internet-Forum zum ersten Mal auf und wurde elf Jahre später von Oxford Dictionaries zum Wort des Jahres gekürt.
Nur schon deshalb kann die Behauptung von Paris Hilton, sie und Britney Spears hätten das Selfie 2006 erfunden, nicht stimmen.
14 years ago, @britneyspears and I invented the selfie ❤️ #LegendsOnly pic.twitter.com/R6M4lOqNRH
— Paris Hilton (@ParisHilton) November 20, 2020
Doch das erste Selfie ist noch viel älter. Sehr viel älter. Gemacht hat es der Amerikaner Robert Cornelius, und zwar 1839. Der damals 30-Jährige machte die Aufnahme im Hinterhof des Lampengeschäfts seiner Familie in Philadelphia. Zu sehen ist darauf ein Mann, der mit zerzausten Haaren etwas skeptisch in die Kamera guckt. Vermutlich wäre es auch recht schwierig gewesen, ein Lächeln durchzuhalten – die Belichtungszeit betrug damals mehrere Minuten, in denen man stillhalten musste.
Cornelius fertigte das Lichtbild vermutlich im Oktober 1839 an. Das ist erstaunlich früh, wenn man sich vor Augen führt, dass die Fotografie erst im Spätsommer 1839 überhaupt richtig erfunden wurde. Zwar datiert die erste lichtbeständige Fotografie aus dem Jahr 1826 – sie gelang dem französischen Erfinder Joseph Nicéphore Niépce. Sein «Heliografie» genanntes Verfahren, bei dem Asphalt als lichtempfindliche Substanz verwendet wurde und die Belichtungszeit mehrere Stunden betrug, gelangte jedoch zu seinen Lebzeiten nicht zur Anwendungsreife.
Erst das von Louis Jacques Mandé Daguerre entwickelte und nach ihm benannte Verfahren der Daguerrotypie reduzierte die Belichtungszeit erheblich und lieferte gut nuancierte Bilder. Sie basierte auf der Verwendung versilberter Kupferplatten, die durch Einwirkung von Joddampf lichtempfindlich gemacht wurden. Die Nachricht von der neuen Technik traf Ende August, Anfang September in den USA ein; Daguerres englischsprachige Veröffentlichung «An Historical Account and a Descriptive Account of the Various Processes of the Daguerreotype and the Diorama» weckte dort enormes Interesse und veranlasste viele Amerikaner, sich mit fotochemischen Prozessen zu beschäftigen.
Zu ihnen zählte auch Cornelius, Sohn eines niederländischen Einwanderers, der im Lampengeschäft seines Vaters arbeitete und sich dort besonders für chemische Prozesse wie Versilberung und Metallpolitur interessierte. Aufgrund dieser Kenntnisse wurde er vom Erfinder Joseph Saxton kontaktiert, der ebenfalls in Philadelphia lebte und ihn damit beauftragte, eine silberne Platte für eine Daguerrotypie herzustellen. In der Tat nahm Saxton Ende September 1839 eine der ersten Fotografien in Nordamerika auf, eine Ansicht der Central High School in Philadelphia.
Durch Saxton wurde Cornelius inspiriert, sich ebenfalls mit der Daguerrotypie zu beschäftigen. Das Selfie aus dem Hinterhof war ein Resultat dieser Bemühungen. Selbstbewusst, aber nicht ganz faktentreu schrieb Cornelius auf die Rückseite: «Das erste Lichtbild, das je gemacht wurde. 1839.» Immerhin dürfte es sich aber um die erste Porträtaufnahme der Geschichte handeln, was ihrem Schöpfer einen Eintrag für das erste Selfie im Guinness-Buch der Rekorde einbrachte.
Was allerdings Cornelius' Selbstporträt grundlegend von modernen Selfies unterscheidet, ist die Tatsache, dass er bei der Aufnahme die Kamera nicht selbst in der Hand hielt. Das wäre bei der langen Belichtungszeit und dem eher unhandlichen Apparat auch kaum möglich gewesen. Das erste Selfie, das auch diesem Kriterium genügt, wurde erst 1909 geknipst: Der englische Fotograf Joseph Byron fotografierte sich selbst, während er in die Kamera schaute – nicht wesentlich anders, als es heute jeden Tag Millionen von Menschen mit ihren Smartphones tun.
CF