Im prächtigen Empiresaal des Berner Rathauses zum Äusseren Stand traten am 9. Oktober 1874 die Delegierten des internationalen Postkongresses zur letzten Sitzung zusammen und besiegelten mit ihrer Unterschrift die Gründung des Weltpostvereins. Der schweizerischen Aussenpolitik war damit zum zweiten Mal nach der Gründung der Telegraphenunion der politisch höchst bemerkenswerte Schachzug gelungen, eine internationale Organisation nach Bern zu holen. Wieder – und nicht zum letzten Mal – sollte die Schweiz zum «Depositärstaat» eines internationalen Vertrages werden und die Oberaufsicht über ein internationales Amt übernehmen.
Der Weltpostverein gehört zu den Schlüsselinstitutionen jener schweizerischen Aussenpolitik, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für eine wachsende Anzahl von neuen internationalen Organisationen zuständig erklärte und einer Politik des Multilateralismus avant la lettre folgte. Der Weltpostverein erklärte die Territorien der Mitgliedsländer zu einem einzigen Postgebiet. Die gegenseitige Anerkennung der Tarife und die Verpflichtung zum Transit ermöglichten mit einem Schlag die grenzübergreifende Weiterleitung von Briefen, Postkarten und Paketen, alsbald aber auch Geldüberweisungen – weltweit und mit kontinuierlich wachsender Mitgliedschaft über alle Kontinente.
Schon der Gründungskongress ging weit über die üblichen Diplomatenkonferenzen des «europäischen Konzerts» hinaus. Die in Bern versammelten Gründungsmitglieder stammten aus nicht weniger als 22 Staaten, auch die Vertreter des Osmanischen Reiches, Ägyptens und der Vereinigten Staaten waren nach Bern gereist. Der Neuenburger Bundesrat Eugène Borel präsidierte als Vorsteher des Postdepartements die Zusammenkunft und erhielt an der letzten Sitzung als Dank von den Konferenzteilnehmern ein silbernes Teeservice, das keineswegs nur wegen seines bedeutenden Wertes von 3000 Franken die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zog. Im Silbertablett waren vielmehr die Erwartungen an die neue Organisation eingraviert, nämlich Libre échange postal – Union générale des postes – Uniformité des taxes und nichts Geringeres als die Schaffung des Weltfriedens durch ein Rapprochement des peuples.
Die Presse und das diplomatische Corps verfolgte den Berner Gründungskongress mit grosser Aufmerksamkeit. Aber es bleibt festzuhalten, dass die Idee eines internationalen Zusammenschlusses nationaler Postverwaltungen im Jahr der Unterzeichnung bereits gute zehn Jahre alt und keineswegs in Bern entstanden war. Als eigentlicher Initiator des Weltpostvereins gilt der deutsche Postdirektor Heinrich von Stephan (1831–1897), den Eugène Borel noch vor Konferenzbeginn in Berlin besuchte. Ein 1897 gemaltes Porträt zeigt den 1885 in den Adelstand erhobenen Heinrich von Stephan in Paradeuniform mit einem gewaltigen Globus aus einer auf den Betrachter ausgerichteten Sicht auf das Rote Meer und den Suezkanal.
Stephan ist eine Schlüsselfigur zum Verständnis des Weltpostvereins und zu seiner Bedeutung in der Geschichte der internationalen Organisationen. Offensichtlich ging es bei der Verteilung der Post nicht um die staatliche Nutzung neuer Technologien, mit der europäischen Postbeförderung hatten die Fürsten von Thurn und Taxis bereits im 16. Jahrhundert Geld verdient. Stephan ging es um die Durchsetzung des Staatsmonopols und dies geschah im deutschen Fall durch schiere militärische Macht. Im Zuge des preussisch-österreichischen Krieges wurden die Thurn und Taxis zur Aufgabe des Postgeschäftes gezwungen und mit der Gründung des Deutschen Reiches für den neu geschaffenen Nationalstaat das Postregal durchgesetzt.
Die Unterstellung vormals grenzübergreifender Akteure und Institutionen unter den modernen, im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalstaat beschreibt eine zentrale Zielsetzung einer ersten Generation internationaler Organisationen, und weist gleichzeitig auf ein strukturelles Dilemma: Die Durchsetzung staatlicher Autorität musste notwendigerweise immer dann relativiert werden, wenn es galt, von der Öffnung eines globalen Marktes zu profitieren.
In dieser Grauzone begannen sich grenzübergreifende Netzwerke zu entwickeln, die an äusserst unterschiedliche Vorstellungen anknüpften, und zu denen Anarchisten und staatliche Post- sowie Kolonialverwaltungen ebenso beitrugen wie schweizerische Exportunternehmen und pazifistische Vertreterinnen und Vertreter des liberalen Internationalismus.
Im Weltpostverein des 19. Jahrhunderts war die ganze Breite dieses Spektrums abgebildet – doch die Organisation wurde nicht nur von höchst unterschiedlichen Akteuren beansprucht. Sie hatte einen beinahe unausweichlichen Einfluss auf das Leben der Menschen, ob diese nun Briefe schrieben oder die explosionsartige Ausbreitung von Postämtern in ihrer Umgebung beobachteten, oder ob sie als Händler von der Etablierung der Paketpost und der Portobefreiung für Mustersendungen profitierten. Der Weltpostverein internationalisierte und globalisierte die Post als Staatsmonopol. Dieses zentrale Merkmal wurde im 21. Jahrhundert zunehmend zum Problem. Private Online- und Kurierdienste stellen das Modell heute in Frage und fordern den seit 1948 zur UN-Sonderorganisation transformierten Weltpostverein heraus.
Nur 16 Monate nach dem Gründungskongress fand in Bern 1876 eine zweite internationale Postkonferenz statt, der diesmal im Ständeratssaal tagte und von Borels Nachfolger, Bundesrat Joachim Heer präsidiert wurde. Die Konferenz war notwendig geworden, weil das Aufnahmegesuch von British India gleichlautende Forderungen der europäischen Kolonialmächte nach sich zog. Damit war der Weltpostverein eine Organisation mit globaler Reichweite geworden. Der nächste Postkongress, der 1878 in Paris stattfand, trug diesem Umstand Rechnung, die Organisation nannte sich fortan Union Postale Universelle – und hatte nun auch Kolonialbeamte an Bord.
Der Diplomat und schweizerische Delegierte Johann Konrad Kern hob in Paris die immense Grösse des Weltpostvereins hervor, der auf 38 Mitgliedsstaaten und eine Bevölkerung von 652 Millionen Menschen angewachsen war. Es sollte sich zeigen, dass die Organisation kontinuierlich wuchs, und dabei das Alltagsleben der Menschen prägte: Das globale Räderwerk des Weltpostvereins ermöglichte den Millionen von Migrantinnen und Migranten, Briefkontakt zu den Herkunftsfamilien aufrecht zu erhalten. Menschen nutzten das neue Medium der Postkarten, die den Aufdruck des Weltpostvereins trugen. Die vom Weltpostverein anerkannten Briefmarken, die eigentlich bloss als Wertzeichen die Transferkosten regulierten, wurden zu visuellen Trägern nationaler Selbstdarstellungen und Sammlungsobjekte einer kosmopolitischen Philatelie.
Am Weltpostkongress von 1900, der wiederum in Bern stattfand, beschlossen die Delegierten zum 25-jährigen Bestehen ein Denkmal zu errichten, das zu einem vielbeachteten Preisausschreiben führte. Der Sieger, der französische Bildhauer René de St.Marceaux, visualisierte den Weltpostverein unter dem Titel «autour du monde» durch personalisierte Stereotype der fünf Erdteile, die um einen mächtigen Globus schweben.
Das in unmittelbarer Nähe des Bundeshauses aufgestellte Denkmal fand nicht ungeteilte Zustimmung, aber der Weltpostverein gewann damit ein bis zum heutigen Tag verwendetes, eingängiges Markenzeichen, das noch vor dem Ersten Weltkrieg die Schweizer Alltagskultur erreichte. Der kosmopolitische Schokoladenproduzent und Pazifist Theodor Tobler liess den Produkten des Hauses Werbemarken in der Kunstsprache Ido beifügen, unter ihnen das Motiv des Weltpostvereins-Denkmals – mit dem Unterschied, dass sich die Kontinente statt Briefe Milchschokolade zustecken.
Nun erscheint die Erweiterung des Postverkehrs und die durch ein internationales Amt koordinierte Verbindung der Postämter eher eine administrative denn eine aussenpolitische Leistung darzustellen. Das Berner Büro wurde zwar in seiner ersten Phase von einem ehemaligen Bundesrat geleitet, das Amt selber beschäftigte allerdings weniger als zehn Angestellte. Doch die Gründergeneration dieser internationalen Ämter verfügte über eines der mächtigsten Narrative des 19. Jahrhunderts: Die internationalen Ämter publizierten Statistiken, die sie aus globalen Daten gewannen. Die so bereit gestellten Informationen waren keineswegs so technisch und neutral, wie deren Herausgeber behaupteten.
In den vom Berner Büro veröffentlichten «Statistiques des services postaux» wurde die kontinuierliche Vergrösserung des gemeinsamen Postgebietes kommuniziert. In den scheinbar unverdächtigen Mitteilungen zum Briefverkehr lässt sich unschwer die Weltlage herauslesen. So teilte 1878 das Berner Amt mit, dass der Briefverkehr des Zarenreiches deutlich nachgelassen hatte. Grund dafür war keineswegs eine politische Krise, sondern das Ende des russischen-türkischen Krieges. In der Lesart des Berner Amtes wurden nach der Rückkehr der russischen Truppen offensichtlich weit weniger Briefe versendet.
So klein die Ämter denn auch waren, für den mit der Oberaufsicht betrauten Sitzstaat stellten sie eine kostengünstige Investition dar, denn die Administration wurde aus den Mitgliedsbeiträgen finanziert. Dies galt auch für den renommierten Posten des Direktors, den Eugène Borel nach bloss zweijähriger Tätigkeit im Bundesrat übernahm. Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt es insbesondere in französischen diplomatischen Kreisen als ausgemachte Sache, dass die Berner internationalen Ämter einen goldenen Fallschirm für scheidende Bundesräte bereithielten – angesichts einer nichtexistierenden Pension für Bundesräte war das in der Presse für Borel erwähnte Jahressalär von 15'000 Franken in der Tat bemerkenswert.
Die Recueil de renseignements sur l’organisation des administrations de l’Union et sur leurs services internes, eine 1911 veröffentlichte Publikation des Weltpostvereins, mag als Beispiel dafür dienen, dass der Weltpostverein als Teil einer internationalen Transport- und Infrastrukturgeschichte einen Blick auf die Mikrogeschichte des Globalen erlaubt. Die Durchsetzung von Interessengruppen ist naheliegend, aber keineswegs auf grosse Handelshäuser beschränkt – die Imker sorgten dafür, dass das Verschicken von lebenden Bienenköniginnen möglich war.
Wichtige Akteure wie die Basler Handelskammer beeinflussten die Diskussion über Versandkosten an den Postkongressen und sorgten gelegentlich mit direkten Interventionen über transnationale Kanäle dafür, dass die Post aus London in Basel bereits um sechs Uhr morgens und nicht erst um 10 Uhr angeliefert wurde.
Die Entdeckungsreise in die Dürre postalischer Reglemente fördert aber auch Unerwartetes zu Tage: So konnten Frauen in einigen Mitgliedsländern des Weltpostvereins auch ohne Vater und Ehemann Postkonti eröffnen und Geld beziehen. Angesichts der vorherrschenden politischen und rechtlichen Benachteiligung der Frauen sind solche Bestimmungen bemerkenswert, zumal sie nicht nur für Frankreich, Belgien und Japan, sondern auch für die britischen Kolonien in Afrika und Uganda aufgeführt wurden.
Gleichzeitig wurden in den Regularien der Post die vorherrschenden Privilegien festgeschrieben. So genossen im Deutschen Reich die regierenden Fürsten, ihre Frauen und Witwen unbegrenzte Portofreiheit. Und wer sich jemals gefragt hat, wie denn die vielen im 19. Jahrhundert neu errichteten westlichen Museen die vielen Tiere, Pflanzen und geologische Artefakte in die Metropole transportierten, wird beim Weltpostverein ebenfalls fündig: Für das British Empire genügte das Kürzel «O.H.M.S» (On Her/His Majesty’s Service), um Museen kostengünstig mit «spécimens d’histoire naturelle» zu versorgen.
Die vom Berner Amt gesammelten und publizierten nationalen Bestimmungen beinhalten aber auch reichhaltige Belege für asymmetrische Machtverhältnisse. Diese bestanden zum einen in ausführlichen Zensurmöglichkeiten. In Japan durfte nichts der Post übergeben werden, was «dangereux pour la paix publique» erschien. Fast alle Reglemente verboten die Verschickung von pornografischem oder im weitesten Sinne unanständigem Material. Die Liste der Verbote spiegelte aber auch den naturwissenschaftlichen Stand des Wissens: Die Verschickung von Bakterien per Post war nicht gestattet.
Neben solchen alltäglichen Beispielen spiegelt die Mitgliedschaft im Weltpostverein, die schnelle Aufnahme der Kolonien und die herausgezögerte Aufnahme Chinas die machtpolitische Weltlage. Die späte Anerkennung Chinas als Mitglied des Weltpostvereins ist ein sprechendes Beispiel dafür, dass der Westen und Japan chinesisches Territorium mit Postämtern überzogen und damit vor allem in den ostasiatischen Handelsmetropolen und den grossen Häfen neben ökonomischen Vorteilen politische Machtansprüche durchsetzten.
Der Weltpostverein stellt eine interessante Herausforderung für das Verständnis globaler Verflechtung und multilateraler Entscheidungsfindung dar. Die Organisation ist seit 1874 im Alltagsleben präsent, sie ist unabdingbare Voraussetzung zum Zugang des Weltmarktes und ein zentrales Beispiel für den schweizerischen Ausbau einer multilateralen Aussenpolitik im Schatten der technischen Kooperation. Doch in der Gründungsphase gingen die Erwartungen noch weiter, der Weltpostverein bot sich als Modell zur friedlichen Konfliktlösung an.
Der Gründungsvertrag führte zur Beilegung von Streitigkeiten im Postverkehr ein Schiedsverfahren auf, das sogar an den Haager Friedenskonferenzen zitiert wurde. Doch die Attraktivität globaler Verflechtung hatte neben der Festschreibung asymmetrischer Machtverhältnisse ihre Tücken. Es dürfte dem Bundesrat wenig gefallen haben, dass der 1881 aus der Schweiz ausgewiesene Anarchist Fürst Peter Kropotkine ebenfalls zu den glühenden Verehrern des Weltpostvereins gehörte.