Der Schutz der Privatsphäre gehört gemäss aktueller Bundesverfassung (Art. 13) zu den Grundrechten aller in der Schweiz lebenden Personen. Dazu gehören die Achtung des Privat- und Familienlebens, der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten sowie die Wahrung des Post- und Fernmeldegeheimnisses.
Als Grundrecht ist der Schutz der Privatsphäre ein neues Phänomen, das erst 1999 in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Als breit anerkanntes Leitbild ist die Idee jedoch älter. Sie reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die Garantie einer Privatsphäre war damals eng verknüpft mit der Idee des republikanischen Bürgers. Die Privatsphäre schützte den freien Bürger vor den Übergriffen eines starken (gemeint war: autoritären, absolutistischen) Staates.
So definierte Meyers Konversationslexikon von 1889 den Begriff «Privat» als «was dem öffentlichen Leben entgegengesetzt ist» oder was den Bereich der Privatwirtschaft betrifft, im Gegensatz zur «Staatswirtschaft» oder «Gemeinwirtschaft». Die bürgerlichen Freiheitsrechte, die als Reaktion auf die zunehmende Macht absolutistischer Staaten entstanden, waren historisch eng verknüpft mit dem Schutz der Privatsphäre.
Die Geschichte des modernen Bundesstaats und der Ausbau seiner Vollmachten gerieten in der Schweiz wiederholt in Konflikt mit dem bürgerlichen Anspruch auf Wahrung der Privatsphäre. Dies zeigt sich beispielhaft im Steuerwesen der Helvetik, also noch vor der Gründung des Bundesstaats 1848. Der Versuch, ein modernes Steuer- und Abgabensystem einzurichten, scheiterte Anfang des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt an einer radikalen Vorstellung des bürgerlichen Steuergeheimnisses.
So durfte im Baselbiet der Statthalter beim Eintreiben der Steuern nur eine Kiste aufstellen, nicht aber kontrollieren, welchen Betrag die Steuerpflichtigen darin deponierten. Die Steuern wurden in einem verschlossenen Umschlag abgegeben, ohne Einsichtnahme der Behördenvertreter. Wer den korrekten Steuerbetrag einwarf, wurde offenbar zum Gespött seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger. Regelmässig landeten zahlreiche Falschmünzen in der Kiste.
Es ist deshalb kein Zufall, dass die Bundesverfassung von 1848 nur in einem Bereich – dem Postwesen – einen Konflikt zwischen Staat und Privatsphäre zu regeln hatte. Die Verfassung bestärkte dabei die Position der Privatleute und garantierte die «Unverletzbarkeit des Postgeheimnisses».
Der hohe Stellenwert, den die bürgerliche Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert dem Schutz des Privaten zugestand, manifestiert sich etwa in verschiedenen Berufsgeheimnissen, die gerade bei bürgerlichen Professionen rechtlich verankert wurden. Das Arztgeheimnis schützte das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Patientin oder Patient, das Anwaltsgeheimnis die Beziehung von Anwältinnen und Anwälten zu ihren Klientinnen und Klienten, das Seelsorgegeheimnis den Austausch zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern. Nicht zu vergessen das Bankgeheimnis, das die Vermögensverhältnisse von Bankkundinnen und -kunden dem Bereich der Privatsphäre zuwies und das 1933 als Bankkundengeheimnis und Gegengewicht zur neuen Bundesaufsicht gesetzlich festgeschrieben wurde.
In vier Bereichen staatlichen Handelns war der Schutz der Privatsphäre im Verlauf des 20. Jahrhunderts umstritten und wurde zumindest vorübergehend eingeschränkt. Sie reichen vom Staatsschutz über das Steuerwesen und das Erziehungswesen bis hin zum Umgang mit neuen Technologien.
Der Staatsschutz existierte seit der Bundesstaatsgründung 1848 zur Sicherung der staatlichen Ordnung. Im Visier standen Einzelpersonen und Gruppen, denen umstürzlerische Handlungen unterstellt wurden und die deshalb überwacht wurden mit ähnlichen Mitteln wie jenen des militärischen Nachrichtendiensts. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als der Bundesstaat im Föderalismus noch vergleichsweise schwach war, fristete der Staatsschutz ein marginales Dasein.
Seit der Zwischenkriegszeit und erst recht im Kalten Krieg wurden die Aktivitäten des Staatsschutzes jedoch stark ausgeweitet. Ausländische und linke oder linksradikale Gruppierungen – insgesamt fast eine Million Menschen – wurden systematisch und zumeist ohne deren Kenntnis überwacht. Als nach dem Ende des Kalten Krieges das Ausmass der Bespitzelungen bekannt wurde und zur «Fichen-Affäre» führte, kam der Bund nicht mehr darum herum, den Staatsschutz grundlegend zu reorganisieren, ihn einer stärkeren Aufsicht zu unterstellen und damit die Privatsphäre der überwachten Personen zu stärken.
Ein zweiter Bereich, in dem der Schutz der Privatsphäre in letzter Zeit eingeschränkt wurde, ist das Steuerwesen. Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten stand das schweizerische Steuerrecht traditionell auf der Seite der Steuerpflichtigen. So wird hier die Einkommenssteuer nicht vorsorglich vom Lohn abgezogen wie in anderen Steuersystemen üblich, sondern erst nachträglich aufgrund einer Steuererklärung berechnet.
Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch war Steuerhinterziehung in der Schweiz ein relativ verbreitetes Phänomen, nicht zuletzt wegen geringer Strafen und dem Schutz des Bankgeheimnisses. Um die Steuerpflichtigen zu ermuntern, hinterzogene Vermögen nachträglich zu deklarieren, erliess der Bund verschiedentlich eine Steueramnestie. Dies erlaubte Steuerpflichtigen, sich selbst für nicht deklarierte Vermögenswerte anzuzeigen, ohne dafür bestraft zu werden. 1945 stiegen nach einer solchen Amnestie die veranlagten Vermögen um 28 Prozent, 1969 um 25 Prozent – Steuerhinterziehung war praktisch zum Volkssport geworden. Dies hat sich erst in den letzten Jahrzehnten geändert, unter internationalem Druck sowohl seitens der EU als auch der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).
Die Schweiz hat im Rahmen der bilateralen Verträge mit der EU und durch Übernahme von OECD-Standards, insbesondere dem automatischen Informationsaustausch, verschiedene Schlupflöcher – vor allem für ausländische Steuerflüchtlinge – stark eingeschränkt. Faktisch fiel dadurch der Schutz des Bankgeheimnisses weg. Sich auf die Privatsphäre zu berufen, um dem Zugriff des Fiskus zu entkommen, ist in den letzten Jahrzehnten schwieriger geworden.
Das Erziehungswesen bildete ein drittes Feld, auf dem staatliche Behörden die Privatsphäre systematisch verletzten oder solche Verletzungen gewähren liessen. Fremdplatzierungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Heimen und Anstalten waren im 19. und 20. Jahrhundert häufig begleitet von Integritätsverletzungen gegenüber Zöglingen, Insassinnen und Insassen.
Dazu gehörten nicht zuletzt öffentliche, erniedrigende Strafrituale wie etwa die verbreitete Praxis, sogenannte Bettnässer ihre verunreinigte Bettwäsche vor allen anderen Zöglingen präsentieren und waschen zu lassen. Auch bei sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt, zu denen es in vielen Heimen und Anstalten kam, wurde die Privatsphäre der Opfer missachtet – mit schweren traumatischen Folgen für die Betroffenen. Auch hier ging die Forderung nach verstärktem Rechtsschutz für Opfer und deren physischer und psychischer Integrität von internationalen Organisationen aus.
Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 führte beispielsweise einige Jahre später zur Abschaffung der Gesetze für administrative Versorgungen. Auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (1989) führte dazu, dass Kinderrechte in Wissenschaft und Praxis heute stärker beachtet werden.
Schliesslich bildeten technische Innovationen eine anhaltende Herausforderung für den Schutz der Privatsphäre. Das alte Postgeheimnis galt nach Einführung des Telegrafen und des Telefons auch für die neuen Kommunikationsmittel. Seit den 1960er-Jahren führten neue Überwachungstechnologien wiederholt zu politischen Antworten, die den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten suchten.
Damals drehten sich die Debatten um miniaturisierte Abhöranlagen und Mini-Kameras («Mini-Spione»), später um die Videoüberwachung im öffentlichen Raum, heute um den Daten- und Privatsphärenschutz im Bereich der sozialen Medien. Mit der Digitalisierung hat der Schutz der Privatsphäre eine radikal neue Dimension erhalten. Heute geht es nicht mehr nur um den Gegensatz zwischen Bürgerin, Bürger und Staat, sondern auch um die Macht internationaler Technologiekonzerne.