«Ein Kind ist ein Luxus, zwei Kinder Wahnsinn» – so beschrieb der bekannte italienische Schriftsteller Roberto Saviano vor sieben Jahren in einem offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi den ökonomischen und demografischen Niedergang des Mezzogiorno. Seine Klage trifft freilich nicht nur auf den Süden des Landes zu, sondern auf ganz Italien: Das «Land der Kinder», das einst die höchste Geburtenrate Europas aufwies, stirbt allmählich aus.
Noch mag es vorkommen, dass etwa in Filmen das Klischee der kinderreichen italienischen Grossfamilie bedient wird – in der wirklichen Welt ist davon nicht mehr viel übrig. Heute gebären Frauen selbst im geburtenschwachen Europa mehr Kinder als in Italien – besonders in den nord- und westeuropäischen Ländern. Nur in Spanien, in der Ukraine und in Malta war die Fertilitätsrate 2020 noch niedriger als in Italien, wo sie bei 1,24 lag. Für den Erhalt der Bevölkerung ohne Zuwanderung sind jedoch in entwickelten Gesellschaften 2,1 Kinder pro Frau notwendig.
Die Fertilitätsrate sank in Italien schon früh unter diesen Wert. Schon Mitte der Achtzigerjahre unterschritt sie die ohnehin schon sehr niedrige Schwelle von 1,5 Kindern je Frau. Italien gehörte zusammen mit Deutschland, Dänemark und Luxemburg zu den ersten europäischen Ländern, die diese tiefe Marke erreichten. Sie wurde seither nicht mehr überschritten.
Die sinkende Fertilitätsrate wirkt sich auf die Zahl der Geburten aus, allerdings mit Verzögerung, da die geburtenstarken Jahrgänge auch mit weniger Kindern pro Frau immer noch relativ viele Nachkommen in die Welt setzen. Seit 2008 ist die Zahl der Geburten in Italien rückläufig; letztes Jahr kamen erstmals weniger als 400'000 Kinder zur Welt – ein «unübersehbares Alarmsignal», wie Gian Carlo Blangiardo, Präsident der Statistikbehörde Istat, warnt.
Es handelt sich um die niedrigste Zahl seit der italienischen Einigung 1861 – doch damals hatte das Land nicht einmal halb so viele Einwohner wie heute. Nach den Bevölkerungsverlusten des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe verzeichnete Italien in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts noch mehr als eine Million Geburten pro Jahr. Das letzte Mal wurde diese Marke während des Baby Booms erreicht; im Jahr 1964.
Schon seit 1993 übersteigt die Zahl der Todesfälle in jedem Jahr ausser 2004 jene der Geburten; die Schere öffnet sich seit 2006 stetig weiter. Das Pandemiejahr 2020, das Italien besonders hart traf, verstärkte den Bevölkerungsschwund noch – die Zahl der registrierten Todesfälle stieg gegenüber dem Vorjahr um 17,6 Prozent auf beinahe 750'000. Daraus resultierte in der natürlichen Bevölkerungsentwicklung – also ohne Berücksichtigung des Wanderungssaldos – ein Rückgang von mehr als 340'000. Das ist beinahe so viel, wie die Stadt Florenz an Einwohnern zählt.
War die italienische Bevölkerung bis Ende der Siebzigerjahre schnell gewachsen, verlangsamte sich das Wachstum in den Achtziger- und Neunzigerjahren deutlich. Nach einem erneuten Schub nach der Jahrtausendwende – nahezu ausschliesslich aufgrund der Zuwanderung – durchbrach Italien 2012 erstmals die Marke von 60 Millionen Einwohnern. Schon 2018 sank die Bevölkerungszahl aber wieder unter diesen Wert, und 2021 sank sie unter die Grenze von 59 Millionen. In den letzten acht Jahren ging die Bevölkerung um mehr als 1,3 Millionen zurück.
Diese Zahlen bereiten den italienischen Statistikern schlaflose Nächte. Sollte diese Entwicklung ungebremst weitergehen, wird Italien im Jahr 2050 rund fünf Millionen Einwohner weniger zählen als heute. Verharrt die Fertilitätsrate auf dem derzeitigen, extrem tiefen Niveau, wird die Zahl der Geburten bis 2050 auf knapp 298'000 sinken und bis 2070 auf unter 250'000. Diese geburtenschwachen Jahrgänge werden später – wenn sie dann das Alter erreichen, in dem sie selber Kinder haben – wiederum für sinkende Geburtenzahlen sorgen.
Die sinkende Geburtenzahl und die steigende Lebenserwartung sorgen zudem dafür, dass die italienische Bevölkerung rasant altert. Das Medianalter lag 2020 bei 47,3 Jahren – damit hat Italien hinter Japan und Deutschland die drittälteste Bevölkerung eines Flächenstaats. Gemäss Projektionen wird das Medianalter bis 2070 weiter ansteigen, auf dannzumal 54,4 Jahre. Die Zahl der Einwohner im Alter von 90 und mehr Jahren – heute rund 827'000 – wird sich bis 2050 etwa verdoppeln.
2021 kamen auf jedes Kind unter sechs Jahren 5,1 Personen über 65 Jahre. Eine Dekade zuvor waren es lediglich 3,8 gewesen; 1971 waren die beiden Alterskohorten sogar noch annähernd gleich gross. Der Zuwachs der Bevölkerung im Rentenalter liegt auch an der steigenden Lebenserwartung. Diese hat seit dem durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Knick stetig zugenommen und beträgt derzeit 82,4 Jahre. Damit liegt das Land in Europa an sechster Stelle.
Etwa seit den Siebzigerjahren ist Italien allmählich zum Einwanderungsland geworden. Zuvor war es ein klassisches Auswanderungsland; in den gut 100 Jahren seit der Staatsgründung 1861 bis zu den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatten rund 25 Millionen Menschen Italien in mehreren Auswanderungswellen den Rücken gekehrt. Diese massive Auswanderung war eine der grössten Massenmigrationen der neueren Zeit.
Damals vermochte der enorme Geburtenüberschuss den Verlust mehr als zu kompensieren. Danach gingen die Geburtenzahlen zurück, während die Zuwanderung langsam Fahrt aufnahm. Die Bevölkerung nahm bis 2014 weiter zu, wobei ab etwa 2000 immer mehr die Zuwanderung dafür verantwortlich war. In den 20 Jahren von 2001 bis 2021 verfünffachte sich die ausländische Wohnbevölkerung in Italien nahezu.
Obwohl die Zuwanderung seit 2010 insgesamt etwas zurückgegangen ist, wandern immer noch deutlich mehr Menschen nach Italien ein als aus. Dennoch gleicht die Zuwanderung den Verlust in der natürlichen Bevölkerungsentwicklung seit 2014 nicht mehr aus. Und die Geburtenrate der ausländischen Wohnbevölkerung, wiewohl höher als jene der italienischen Staatsangehörigen, ist ebenfalls rückläufig.
Dass das einst so kinderreiche Italien heute weniger «Bambini» produziert, ist an sich nicht erstaunlich. Praktisch alle europäischen Länder befinden sich bereits in einer fortgeschrittenen Phase des demografischen Übergangs. Diese ist durch leicht sinkende Sterberaten und stark abnehmende Geburtenraten sowie ein zurückgehendes Bevölkerungswachstum gekennzeichnet.
In Italien führen jedoch verschiedene Faktoren dazu, dass sich die demografische Lage mehr zuspitzt als in anderen Ländern. Das oben erwähnte frühe Absinken der Fertilitätsrate geschah schnell und erfolgte von einem höheren Niveau aus als in vergleichbaren Staaten. Dieser rapide Fall, auf den keine Erholung folgte, führte zu einer sehr ungleichen Altersverteilung: 2021 kamen auf 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren 37 über 64-Jährige. Dieser Quotient war im europäischen Vergleich am höchsten. Bis 2050 könnten dann bereits 68 über 64-Jährige auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen – eine wahre Herausforderung für das Rentensystem.
Um diese Herausforderung zu meistern, ist Italien allerdings derzeit wirtschaftlich nicht gut gerüstet. So ist die Produktivität zwischen 1995 und 2016 im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern nicht leicht gestiegen, sondern sogar gefallen. Dementsprechend stagniert auch die Wirtschaftsleistung seit langem. Die Wirtschaftskrise im Gefolge der Finanzkrise 2007 hat Italien zudem hart getroffen; noch immer liegt das Bruttoinlandsprodukt weit unter dem Wert, den es 2008 hatte.
Die anhaltende wirtschaftliche Misere, die besonders im Süden ausgeprägt ist, drückt auf die demografische Entwicklung – auch indem sie die Auswanderung von jungen Leuten anheizt, die kaum eine berufliche Perspektive haben. Zahllose Hochschulabsolventen finden nur Jobs im Niedriglohnsegment; finden sie eine qualifizierte Arbeit, ist der Lohn trotzdem oft bescheiden. Dazu kommt der verbreitete Nepotismus – attraktive Stellen werden vielfach dank persönlicher Netzwerke vergeben und nicht aufgrund von Ausbildung und Erfahrung. In vielen Fällen ist die Emigration der einzige Ausweg aus dieser tristen Lage.
Besonders aus dem Mezzogiorno wandern viele Menschen ab; entweder in den Norden Italiens oder ins Ausland. Sie sind oft jung – 2019 waren zwei von fünf Auswanderern jünger als 35 Jahre – und gut ausgebildet. Ihre Emigration verstärkt daher den Braindrain, in Italien «Fuga dei cervelli» genannt («Flucht der Gehirne»). Gerade einige der ökonomisch schwächsten Provinzen im Mezzogiorno – Kalabrien, Basilikata und Molise, aber auch Sardinien – gehören ohnehin zu den kinderärmsten Regionen der gesamten Europäischen Union. Die Abwanderung verstärkt diese ökonomisch-demografische Abwärtsspirale noch zusätzlich.
Die niedrigen Löhne und die hohen Lebenshaltungskosten führen dazu, dass viele Frauen in Italien es sich nicht mehr leisten können, das traditionelle Rollenmuster zu leben, gemäss dem Mütter ihre Kinder zu Hause betreuen. Eine wachsende Anzahl hat sich ohnehin längst davon emanzipiert. Staatliche Betreuungsplätze für Kinder sind aber nach wie vor knapp und private Angebote für viele schlicht unerschwinglich.
Immerhin können Familien mit Kindern unter drei Jahren beim Nationalen Fürsorgeinstitut INPS einen Antrag auf den «Bonus asilo nido» stellen. Dieser Betreuungsbonus ist seit 2020 teilweise einkommensabhängig und kann bis zu 3000 Euro pro Jahr betragen. Dennoch bleibt vielen Frauen nur die Wahl, entweder auf Kinder oder auf einen Job zu verzichten. In der Tat ist die Erwerbstätigkeitsquote der Frauen in Italien mit 52 Prozent die niedrigste in der gesamten EU, mit Ausnahme Griechenlands. Auch hier hinkt der Mezzogiorno dem Norden hintendrein. Während aber früher Frauen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, besonders viele Kinder hatten, ist dies heute nicht mehr der Fall.
Immer mehr Frauen stellen wegen Ausbildung oder Beruf ihren Kinderwunsch zurück – oft so lange, bis es zu spät ist. Dieses Phänomen ist auch in anderen Ländern zu beobachten, aber in Italien liegt das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt ihrer Kinder höher als in den meisten OECD-Ländern. Im EU-weiten Vergleich waren die Mütter im Jahr 2018 in Italien mit 31,2 Jahren am ältesten und in Bulgarien mit 26,2 Jahren am jüngsten.
Der Rückgang der Fertilitätsrate bedeutet übrigens nicht, dass Frauen in Italien sich keine Kinder wünschen – im Gegenteil: Laut einer Umfrage der Zeitung «Corriere della Sera» in den Nullerjahren wollten nur gerade zwei Prozent aller in einer Partnerschaft lebenden Frauen keinen Nachwuchs. Im Schnitt wünschten sich die 20- bis 34-jährigen Frauen 2,2 Kinder; mehr als in Deutschland, wo der entsprechende Wert bei 1,7 lag. Gleichwohl werden in Deutschland mehr Kinder pro Frau geboren als in Italien – die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist in Italien offenbar grösser.
Ein beträchtlicher Teil der schwierigen wirtschaftlichen Lage dürfte auch einem Phänomen geschuldet sein, das in Italien mit dem Begriff «Mammoni» umschrieben wird: Es handelt sich um junge Männer, die auch als Erwachsene noch im elterlichen Haushalt wohnen. In Italien sollen bis zu 70 Prozent der unverheirateten Männer über 30 noch im «Hotel Mama» wohnen. Das verlängerte Wohnen im Elternhaus kommt allerdings auch bei jungen Frauen häufiger vor als früher – einer der Gründe dafür dürfte die längere Ausbildung sein und die damit verbundenen Kosten. Auch dies führt dazu, dass die Familiengründung auf spätere Jahre verschoben wird – oder gleich völlig ausbleibt.
Nirgends tritt der demografische Niedergang Italiens deutlicher zutage als in den «Borghi fantasma», den Geisterdörfern in strukturschwachen Gebieten. Geburtenrückgang und massive Landflucht sorgen dafür, dass diese kleinen Siedlungen sich entvölkern. Die Alten sterben weg, die wenigen Jungen ziehen ins Ausland oder in die Städte. Der Versuch, die leerstehenden und oft bereits verfallenen Immobilien als sogenannte 1-Euro-Häuser zum Verkauf anzubieten und damit neue Bewohner anzulocken, gelingt jedoch nur in Ausnahmefällen.
Stirbt Italien nun langsam aber sicher aus? Das ist letzten Endes doch eher unwahrscheinlich, auch wenn demografische Prognosen – wie alle Voraussagen – umso unsicherer werden, je weiter sie in die Zukunft reichen. Vermutlich wird sich die Einwohnerzahl auf einem bedeutend niedrigeren Niveau stabilisieren, nachdem das Land den demografischen Übergang vollständig durchlaufen hat und die Geburten- und die Sterberate niedrig und stabil sind. Die Alterspyramide Italiens könnte im Jahr 2100 bei dannzumal rund 30 Millionen Einwohnern also etwa so aussehen:
Eine dermassen geschrumpfte Bevölkerung muss, auch angesichts der Klimakrise, nichts per se Schlechtes sein. Das Problem ist eher der Weg dorthin, der durch einen krassen Überhang von alten Menschen gekennzeichnet sein wird. Dies verursacht enorme wirtschaftliche und wohl auch soziale Probleme, besonders in der Altersvorsorge und im Gesundheitswesen – zumal in einem Wirtschaftssystem, das grundlegend auf Wachstum ausgelegt ist.
Ist da die Kausalität nicht eher umgekehrt? Weil viele junge Menschen keine Familie gründen (können), gibt es auch keinen Grund, das "Hotel Mama" zu verlassen.
Schuld ist die schlechte Wirtschaftslage, die sowohl eine Familiengründung wie auch eine eigene Wohnung kaum tragbar macht.
Ich gehe schwer davon aus, dass die meisten Italiener nicht so lange bei der Familie bleiben, weil Mama so gut kocht, sondern weil sie finanziell einfach wenig andre Optionen haben.
Dies funktioniert nur durch Kreislaufwirtschaft statt Wachstum und durch Reduktion der menschlichen Population auf ein, für alle Lebewesen und den Planeten, erträgliches Mass…
Ich spreche selbstverständlich nicht von Mord oder kollektivem Selbstmord, sondern von Verzicht und Geburtenkontrolle (weil der Mensch zu egoistisch ist um zu verzichten)…