Zwischen Autonomie und Risiko: Wenn Babys durch Freebirthing sterben
Lorren Holliday befindet sich in ihrem Wohnwagen in der Wüste von Arizona, als die Wehen beginnen. Und sie will hier bleiben, sie hat sich für eine «freie Geburt» entschieden, eine Geburt ohne medizinische Unterstützung von Ärzt:innen oder Hebammen. Nur ihr Mann ist anwesend und virtuell die 6000 Mitglieder der inzwischen geschlossenen Free-Birth-Society-Facebook-Gruppe.
Es ist der 1. Oktober 2018. Holliday postet ihre Fortschritte, die bald schon keine mehr sind. Nach drei Tagen sind ihre Schmerzen so stark, dass sie sich übergeben muss. Die Wehen verschwanden plötzlich ganz, nur um dann in einem nicht enden wollenden Sturm wiederzukommen. «Warrior woman», schreiben die Frauen. Sie sei eine Legende.
Dann platzt Hollidays Fruchtblase. Eine übel riechende, braune Flüssigkeit läuft an ihren Beinen runter. Ein mögliches Zeichen für eine Infektion. Alles tut weh, pinkeln kann sie seit Stunden nicht.
«Bitte geh ins Krankenhaus», schreibt eine Hebamme in der Gruppe – ihr Beitrag wird sofort gelöscht.
«Die Schmerzen sind nicht unerträglich», antwortet Emilee Saldaya der Gebärenden jetzt auf Facebook Messenger. Sie müsse erst 1000 Tode sterben und alles loslassen, was sie für unmöglich halte.
«Reite diese Wellen, Schwester, dein Baby kommt!»
Saldaya ist die Gründerin der Free Birth Society. Die Frau, die sich in einem inzwischen auch nicht mehr öffentlich zugänglichen Promo-Video auf Youtube «als Umstürzlerin eines über hundertjährigen Systems geburtshilflicher Gewalt» feiert.
Die Frau, die ihre Anhängerinnen lehrt: «Vertraue dem Prozess. Geburt ist sicher.»
Hollidays' war es nicht. Ihr Baby kommt tot zur Welt. Im Krankenhaus, das sie nach sechs Tagen aktiver Wehen doch noch aufsuchte.
Alle 16 Sekunden stirbt ein Baby während der Geburt – schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Das sind rund zwei Millionen stille Geburten pro Jahr. Eine Zahl, die wegen massiver Datenlücken ein hochgerechneter Schätzwert ist. Denn an die 98 % toter Babys finden niemals in einer Zahl Ausdruck, weil sie nirgends registriert werden.
In der westlichen Welt aber werden sie das. Nur 2 % der globalen Stillgeburten ereignen sich in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland. Hier endet eine von 232 Geburten mit dem Tod des Kindes. In Subsahara-Afrika nimmt jede 42. Geburt diesen traurigen Ausgang. Den massiven Unterschied macht der Zugang zu qualifizierter Schwangerschafts- und Geburtsversorgung.
Bild: AP
Weil die meisten gängigen Ursachen damit verhindert werden können; unbehandelte Infektionen genauso wie ein Geburtsstillstand, schwere Präeklampsie (zu hoher Blutdruck) oder eine Nabelschnur, die sich um den Hals des Babys gelegt hat, sich verknotet oder eingeklemmt wird.
Lorren Holliday erlitt eine schwere Harnwegsinfektion. Ihr Baby schied noch im Bauch Mekonium aus, weil es unter Stress stand. Dieser schwarzgrüne Kindspech, wie man dem zähen, ersten Stuhlgang auch sagt, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Ungeborene dringend Hilfe benötigt.
So viel weiss auch Saldaya. Als Holliday ihr ein Foto davon schickt, rät sie ihr am nächsten Tag schliesslich, doch das Krankenhaus aufzusuchen. Nur sollte sie die Ärzt:innen über den Zeitpunkt ihres Blasensprungs belügen. Auf diese Weise könne sie einen Kaiserschnitt verhindern. Für das bevorstehende Täuschungsmanöver schickt sie Holliday ein Skript mit folgendem Text:
«[Sag den Ärzten] ‹Ich habe vor kurzem Wehen bekommen und heute Morgen ist meine Fruchtblase geplatzt, aber sie riecht schlecht, und ich dachte, es wäre am besten, hierher zu kommen und einen NST [Nonstress-Test] und einen Katheter machen zu lassen und dann weiterzusehen. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich aufgenommen werden möchte, ich möchte nur Hilfe, um zu verstehen, was los ist.›»
Vortragen konnte sie die Lüge nicht mehr. Hollidays Erinnerungen an die letzte Phase ihrer Geburt sind irgendwo zwischen dem Schmerz und der Anästhesie verloren gegangen. Als sie aufwachte, waren sie und die anderen voller Blut – und alles war still.
Verstehen, was los ist, das wollen wir an dieser Stelle alle.
Wer ist diese Emilee Saldaya? Was treibt sie an, einer sich offensichtlich in Not befindlichen Gebärenden zu raten, dem Prozess zu vertrauen und das medizinische Personal zu täuschen? Und warum leistet eine sich offensichtlich in Not befindliche Gebärende ihren Worten Folge?
Die Investigativ-Journalistinnen Sirin Kale und Lucy Osborne haben ein Jahr lang für den «Guardian» gegraben, um diese Fragen zu beantworten. Inzwischen gibt es die Recherche auch als Podcast. Insgesamt haben sie 48 Fälle von stillen Geburten, Todesfällen kurz nach der Geburt oder anderen schwerwiegenden Folgen für Mutter oder Kind identifiziert, die mit Saldayas Free Birth Society in Verbindung stehen. Untermauert werden diese potenziell vermeidbaren Tragödien durch Interviews mit den Müttern, mit Freunden und Familienangehörigen, durch Tagebucheinträge, Podcast-Auftritte, Chatverläufe, Videoaufnahmen, medizinische Notizen und rechtliche Dokumente. Die meisten Schadensfälle betreffen Mütter in den USA und Kanada, aber die Autorinnen schreiben, es gebe auch welche in der Schweiz, in Frankreich, Südafrika, Thailand, Indien, Australien, Grossbritannien und Israel. Wie viele Babys in FBS-Kreisen tatsächlich gestorben sind, sei schwer zu quantifizieren, da viele «Verlustmütter», wie sie genannt werden, nach ihrem Verlust verschwinden. Die meisten reagieren nicht auf journalistische Anfragen.
Auf der Homepage der Free Birth Society tanzt nackt eine hochschwangere Frau auf einer ausgebleichten Wiese, ihre rot-goldenen Tücher flattern im gleissenden Licht und darüber stehen die Worte: «Frei zu gebären bedeutet, sich auf die uralte Wahrheit deiner Kraft, Liebe und Instinkte einzulassen und die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen.»
Sie stammen von Emilee Saldaya. Wahrscheinlich ist sie auch die Tänzerin. Sie ist der Mittelpunkt des Universums, das sie geschaffen hat. Eine Welt, an der sie seit Frühling 2017 arbeitet und die inzwischen über 13 Millionen Dollar schwer ist.
Saldaya, damals noch Emily Brenner aus Florida, wollte schon immer reich sein. Sie wollte auch schon immer Aktivistin sein. Als Tochter einer Hebamme und Ärztin war auch bald klar, auf welchem Gebiet sie diese nicht ganz einfach zu vereinbarenden Wünsche zur Erfüllung bringen wollte. Sie arbeitete als Doula – also als nicht-medizinische Geburtsbegleiterin –, empfand das Gesundheitssystem aber zunehmend als unterdrückend, ja als missbräuchlich gegenüber gebärenden Frauen. Eine Hebammenausbildung hat sie deshalb nicht gemacht; sie wollte nicht «Teil des Problems» werden.
Und so landete sie, wo sie heute noch wirkt: auf dem noch weitgehend wilden Feld der unbegleiteten Geburt, auf dem sie ihr rein weibliches Birth-Keeper-System aufzubauen begann: mit einem Podcast, der inzwischen über fünf Millionen Downloads erreicht hat. Es kam die Mitgliedschaft im privaten Zirkel Lighthouse innerhalb der Free Birth Society für 499 Dollar (rund 400 CHF) hinzu. Es folgte der «Complete Guide to Freebirth» für 399 Dollar (320 CHF), 60-minütige Coaching Sessions für 350 Dollar (280 CHF) in «Birth Trauma Debriefing», «Freebirth Prep» oder einfach eine für «Clarity», das 4-tägige The Midwife Within Retreat, eine «Reise in die uralte, instinktive Weisheit, die in jeder Frau lebt», geleitet von der «Ältesten Hebamme» Sister MorningStar für 1500 Dollar (1200 CHF).
Und dann kamen die Schulen: eine «Radical Birth Keeper» (RBK) wird man in drei Monaten für 6000 Dollar, das MatriBirth Midwifery Institute (MMI), eine einjährige «Online-Intensivausbildung für Hebammen nach Goldstandard», kostet 12'000 Dollar (9600 CHF). Zur Klarstellung: Mit Medizin hat das nichts zu tun. Den Frauen wird nicht beigebracht, was im Notfall zu tun ist. Sie werden keine Hebammen im staatlich anerkannten Sinne. Sie werden laut der Gründerin «re-educated», also umgeschult, um Geburten jenseits von «Protokollen, Lizenzen und institutionellen Vorgaben» zu begleiten. Es werde gelehrt, wie man online neue Klientinnen finden und ein Netzwerk aufbauen kann. Und wie man sich gegen «Drama und Gossip» der «Birth World» abgrenzt.
Saldaya gibt auch jährlich ein Festival auf ihrem 53 Hektar grossen Grundstück in den Blue Ridge Mountains von North Carolina. Matriarch Rising heisst es und ist nur für Frauen. 2021, als es das erste Mal stattfand, stand sie in einem weissen, wallenden Kleid in ihrer Mitte. Auf ihrem Kopf eine Krone mit goldenen Strahlen, der Heiligenschein einer Göttin. Um sie herum scharten sich die treusten Anhängerinnen und schrieben jedes Wort auf, das ihren Mund verliess.
Einige wohnten auch da, in Jurten auf ihrem Rasen, den sie für 10'000 Dollar mit riesigen Pilzen versah. Für 100'000 Dollar liess sie darauf einen Pool bauen und eine Aussenküche dazu, sie kaufte einen Range Rover und wünschte sich einen Privatjet.
Im Zwielicht von Sendungsbewusstsein und Selbstvermarktung, zwischen Bekehrungswillen und Gewinnmaximierung hat Saldaya ihr goldenes Reich erschaffen. Eine Welt, deren innerster Kern wie ein Kult zu funktionieren scheint. Ein sehr teurer. Er kostet Geld – und manchmal auch Leben.
Verkauft wird Selbstbestimmtheit. Das ist Saldayas Produkt – oder wie sie es nennt: «Sovereignty», Souveränität. Und zwar im Moment der Geburt, dann, wenn die Frau neues Leben auf die Welt bringt.
Sie bietet sie zusammen mit Yolande Norris-Clark an, ebenfalls eine Ex-Doula und vor ihrer schicksalhaften Zusammenarbeit eine kleine Berühmtheit in der Geburtswelt. Wegen ihres Blogs, aber vor allem wegen ihres viralen Videos von der freien Geburt ihres Sohnes. Inzwischen ist sie mit ihrem elften Kind schwanger.
«Wenn Sie bereit sind, die Geburt, das Leben und die Weiblichkeit, die Ihnen wirklich gehören, für sich zu beanspruchen, sind Sie hier genau richtig», verspricht Saldaya auf der FBS-Homepage.
Sie macht spirituell-feministische Versprechungen, redet fortwährend in einer Rhetorik des Zurückgebens und -holens. Die Empfänglichkeit dafür kann man verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sehr der weibliche Körper über Jahrhunderte hinweg Objekt von Ordnungsmacht war – und es in vielen Bereichen und Ecken dieser Welt noch immer ist:
Er war Eigentum des Vaters, des Ehemanns, den man ungestraft missbrauchen und töten konnte. Die weibliche Sexualität wurde von der Kirche verteufelt und von Aufklärern als nicht existent erklärt. Frauen hatten keine eigenständige sexuelle oder reproduktive Entscheidungsgewalt. Staaten haben ihre Bevölkerung mittels reproduktiver Politik zu steuern versucht: Verbote von Verhütung und Abtreibung bis hin zu Zwangssterilisationen, die Ein-Kind-Politik oder Gebärzwang, all diese Werkzeuge dienen in irgendeiner Form dazu, die weibliche Fruchtbarkeit direkt an gesellschaftliche Interessen zu schrauben.
Mit dem Aufkommen des studierten, männlich dominierten Arztberufs schliesslich wurde das bis anhin gesammelte, weibliche Hebammenwissen über Geburt grossflächig entwertet. Wer wie wo gebären durfte, wurde zu einer Entscheidung, die männlichen Experten und Kliniken vorbehalten war.
Rund 400 Jahre lang – also seit dem Beginn der medizinischen Intervention – wurde den Frauen die liegende Geburtsposition vorgeschrieben. Der Grund: Auf diese Weise hat der Arzt einen einfacheren Zugang zur Gebärenden; er kann die Kontraktionen und Herztöne besser überwachen. Und die Zange besser bedienen. Zentrum des medizinischen Raums wurde das Bett. Dort kam neues Leben zur Welt – aus Bequemlichkeit, nicht aus medizinischer Notwendigkeit. Heute weiss man, dass das Liegen eine Geburt eher verlangsamt und erschwert, die Schmerzintensität der Mutter ist erhöht und die Plazentadurchblutung sinkt. In modernen Gebärsälen stehen heute darum Gebärstühle, Wannen, Geburtsbälle, Seile und Trapeze ums Bett.
bild: METROPOLITAN MUSEUM OF ART / SCIENCE PHOTO LIBRARY
Das sind alles Fakten. Wie man sie wertet und was man damit macht, ist eine andere Frage. Saldaya formt daraus eine spirituell-feministische Bewegung, die den Frauen einen Ausweg aus all diesen Zwängen verspricht. Ein Zurück in eine Art matriarchalen Naturzustand, der, wie jede Ursprungsvorstellung, stets im Mythos mündet, weil sie immer schon erdacht, immer schon Projektion ist aus dem Jetzt.
In salbungsvoller Sprache heisst sie die Frauen zu einem «neuen Geburtsparadigma» willkommen, in dem das Vertrauen nicht in ein System, sondern in sich und die eigene Kraft gelegt wird. Sie lädt sie ein, Teil einer Schwesternschaft zu werden, in der «die wilde, ungezähmte Natur» von Frauen gefeiert wird.
Ihre esoterische Poesie kippt nur dann ins Vulgäre, wenn sie die Machenschaften des Feindes diskreditieren will. Wenn sie Hebammen vorwirft, «Frauen unter der Geburt zu fingern». Mit ihrer Wortwahl kriminalisiert sie deren Arbeit, wirft ihnen «Sabotage» und «Betrug» vor, weil sie Teil des Systems seien.
Und das System ist der Feind. Es ist das Böse. Alles ausserhalb davon ist das Gute; ist Natur, ist das Ursprüngliche, auch das Weibliche. Das ist der Dualismus, in dem hier gedacht wird. Und es ist ein absoluter.
Für Saldaya ist die Geburtsmedizin eine Industrie, in der das Personal die Wünsche der Gebärenden nicht nur nicht respektiert, sondern oftmals gegen sie handelt; ein Ort der Gewalt, wo sich sexuelle Übergriffe als medizinische Eingriffe tarnen.
Und tatsächlich gibt es Fälle von Gewalt unter der Geburt. Auch in der Schweiz. Das muss nicht zwingend physische Gewalt sein; auch Demütigungen, Zwangsausübung, unnötige Untersuchungen oder das Verabreichen eines Wehenmittels ohne die Zustimmung der Frau werden dazugezählt. Letzteres kann passieren, wenn eine Gebärende zu lange in den Wehen liegt, zu lange für den Geburtsbetrieb in einem Krankenhaus, wo der Gebärsaal schnell wieder freigegeben werden muss. Das ziehe aber weitere Interventionen nach sich, eine Periduralanästhesie (PDA) beispielsweise, die wiederum das Risiko für einen Kaiserschnitt erhöht, sagt Monika Di Benedetto vom Verein Gewaltfreie Geburtshilfe. Am Ende wird ein operativer Eingriff vorgenommen, den die Frau zwar nicht will, aber durchführen muss, «weil man ihr nicht genug Zeit für eine natürliche Geburt zur Verfügung gestellt hatte.»
In den USA ist das Vertrauen in die professionelle Geburtshilfe besonders zerrüttet: Unter den einkommensstarken Ländern sind sie dasjenige mit der höchsten Müttersterblichkeitsrate, wobei schwarze Frauen dreimal so häufig sterben wie weisse. «Die meisten dieser Todesfälle – über 80 Prozent – wären wahrscheinlich vermeidbar gewesen», schreibt der Commonwealth Fund, eine private amerikanische Stiftung, die sich für ein besseres und für alle zugängliches Gesundheitssystem einsetzt, in seinem Vergleichsbericht vom Juni 2024.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben Vor- und Suchterkrankungen, von denen US-Amerikanerinnen häufiger betroffen sind, sind es vor allem systemische Probleme, welche die Sterblichkeitsrate von Müttern in die Höhe treiben. Das Land leidet an zwei Extremen: Für viele Frauen heisst es «zu wenig, zu spät»; sie haben überhaupt keinen Zugang zum Gesundheitswesen oder ihre Krankenversicherung bietet nicht die nötige Deckung dafür. Zudem fehlen überall die Hebammen. Nur etwa 10 % der Geburten werden in den USA von Hebammen betreut, während es in vielen europäischen Ländern 50–75 % und mehr sind. In Schweizer Spitälern ist die Geburt mit Beleghebamme Standard; Ärzt:innen werden nur bei Komplikationen und Risiken hinzugezogen.
Für die anderen Frauen heisst es «zu viel, zu früh»: Wer sein Kind im Krankenhaus zur Welt bringt, erlebt oft einen routinemässigen Einsatz von Massnahmen, die eigentlich nur für den Notfall gedacht sind: eine Dauerüberwachung der Wehen und der Herztöne des Ungeborenen (CTG), Geburtseinleitungen ohne klare Indikation. Auch die hohen Kaiserschnittsquoten sprechen für sich. Aus Angst vor Haftung, Rufschaden und Lizenzverlust führen US-amerikanische Ärzt:innen lieber einen Eingriff zu viel aus, als sich dem Risiko auszusetzen, wegen einer komplizierten vaginalen Geburt verklagt zu werden. So umgeht man Rechtsstreitigkeiten – und maximiert den Gewinn.
Die meisten Frauen, die ihren Weg in die Free Birth Society finden, sind in jenen systemischen Geburtsmühlen zerrieben worden. Ihre Stimmen wurden nicht gehört, ihre Bedürfnisse übergangen. Sie wurden misshandelt oder traumatisiert. An einen solchen Ort will man nicht zurückkehren. Man will einen sicheren Ort.
Freies Gebären sei nicht nur sicher, sondern sicherer als eine Geburt mit medizinischer Unterstützung, behaupten Saldaya und Norris-Clark. Ein Blick auf die oben aufgeführten, weltweiten Zahlen von stillen Geburten reicht, um diese Aussage Lügen zu strafen.
Der FBS-Instagram-Account ist voll von Bildern glücklicher Mütter, die nach einer unbegleiteten Hausgeburt ihre Babys im Arm halten. Der FBS-Podcast ist voll von freien, selbstbestimmten Geburtsgeschichten aus Australien, Deutschland, aus der kriegsversehrten Ukraine. Die glückliche Ankunft von Zwillingen, von einem Mädchen mit Downsyndrom, von so vielen Babys, geboren von Frauen, die ihre Eigenmächtigkeit zurückgewonnen haben. Es sind die vielfältigsten Variationen davon, wie aus einem Trauma ein Triumph werden kann.
Und ja, für die meisten gesunden Frauen, die frei gebären, sind die Risiken gering. Aber es gibt die anderen. Die Geschichten, die kein glückliches Ende gefunden haben – Geschichten von Müttern, die ihre Entscheidung bereuen, weil ihr Baby dadurch mit schweren Behinderungen zur Welt gekommen ist – oder überhaupt nicht geatmet hat.
Sie finden in dieser Community aber keinen Platz. Weder im Podcast noch auf den Social-Media-Kanälen. Sie werden gelöscht. Und die betreffenden Mütter blockiert.
Und damit sind wir beim Kernproblem angelangt: Die Gründerinnen der Free-Birth-Community blenden einen Teil der Wahrheit aus; die traurigen Geschichten werden unsichtbar gemacht.
Das ist Realitätsverzerrung. Sie geben vor, ihr Birth-Keeper-System sei ohne jeden Makel, ganz im Gegensatz zum medizinischen. Bewegungen, die Kritik an ihren eigenen Schattenseiten nicht zulassen, drohen genau in das umzuschlagen, was sie an anderen verurteilen: eine Rechtfertigungs-Ideologie, die ihre Anhängerinnen bindet, statt sie zu emanzipieren.
Genau das passiert hier: Den Frauen schlägt eine Welle positiver, bestätigender Erzählungen entgegen, die zu ihrer neuen Realität werden: Eine Alleingeburt kann nichts anderes als eine wunderbare Erfahrung werden. Zu erdrückend ist die Beweislast für die Richtigkeit der Ideologie.
Und sollte wider Erwarten doch etwas schiefgehen, ist es kein Systemversagen, sondern allein der persönlichen Unzulänglichkeit der Frau anzulasten. Hier ist die Ideologie konsequent: Wer die totale Selbstbestimmtheit will, muss auch die totale Verantwortung übernehmen – ungeachtet der tatsächlichen Risiken.
Saldaya nennt das «Radical Responsibility». Die Befreiung aus dem für sie pathologisierenden, patriarchalen Gesundheitswesen ist eine absolute, es gibt kein Dazwischen: Wer sich einen Notfallplan zurechtlegt, wählt die Medizin. Vertraut der Geburt nicht genug. «Man muss sich für die eine oder die andere Welt entscheiden», sagt Norris-Clark: Die Mutter, die allein gebärt, trägt für alle Folgen die alleinige Verantwortung, selbst für ihren Tod und den ihres Kindes.
Niemand kommt, um sie zu retten. Sie will das auch gar nicht. Laut der Doktrin ist sie völlig souverän.
Doch wie souverän ist sie wirklich, wenn sie ihrem eigenen Gespür nicht mehr vertraut und stattdessen den Anweisungen ihrer Birth Keeperin folgt? Wenn sie, wie Lorren Holliday, während der Geburt ahnt, dass etwas nicht stimmt, und dieser Ahnung nicht mehr Folge leistet, weil das Krankenhaus Versagen und Verrat bedeutet?
Weil sie gelernt hat, dass die inneren Alarmglocken bloss ein Relikt des nicht ganz ausgetriebenen Medizin-Mindsets sind, ein ungewollter Konditionierungsrest, der sich laut klingelnd zwischen sie und ihre Autonomie stellt.
Weil Saldaya ihr sagt, dass alles «normal und gesund» aussieht. Weil sich die Ebene des Normalen in der FBS-Welt so weit verschoben hat, dass auch ein vorzeitiger Blasensprung, die Steisslage eines Babys, wochenlange Wehen und Schwangerschaftsdiabetes allesamt nur Variationen davon sind – und damit kein Grund zur Sorge für die Alleingebärende.
«Ich wollte Gesundheit. Ich wollte Natürlichkeit», sagt Holliday. Was sie bekam, war ein Sternenkind. Journey Moon hat sie es genannt.
Aus heutiger Sicht mutet es fast widersprüchlich an, dass Saldaya ihr am Ende doch noch dazu geraten hat, das Krankenhaus aufzusuchen. Aber das war 2018. Seither hat sich das Herz der Bewegung so sehr radikalisiert, dass es ihm nicht mehr darum geht, was sich die einzelne Anhängerin für ihre Geburt wünscht, sondern bloss darum, die einzig wahre Geburtsweise zu propagieren.
Saldaya hat eine Beteiligung am Tod von Hollidays Kind immer bestritten. «Ich kannte diese Frau nicht.»
Und selbst wenn in solchen Fällen eine Mitschuld im strafrechtlichen Sinne schwierig auszumachen ist, gibt es doch ein Feld, wo die Grenzen klarer definiert sind: bei unterlassener Hilfeleistung.
«Ich belebe das Baby einer anderen Person nicht», erzählt Saldaya 2025 ihren Schülerinnen. Sie sei bei einer solchen Geburt dabei gewesen, «ein paar Minuten lang» habe das Neugeborene nach der Geburt nicht geatmet, diese Erfahrung empfand sie als Herausforderung, weil auch sie ihre «gesellschaftliche Konditionierung, das Atmen des Babys hören zu wollen», noch nicht ganz abgelegt habe. Dennoch tat sie nichts – und schaute bloss zu: «Ich kann nichts tun», meinte sie. «Ich werde keine Entscheidungen für das Baby einer anderen Person treffen.»
Schon wenige Minuten Sauerstoffmangel bei der Geburt können für das Baby tödlich sein. Und ist er es nicht, können die betroffenen Kinder lebenslange Hirnschäden davontragen, die sich als Entwicklungs-, Motorik- oder Sinnesstörungen äussern können, auch Lernschwierigkeiten, verminderte Intelligenz oder Epilepsie können die Folge sein.
Eltern, ja alle bei einer Geburt anwesenden Personen, sind gesetzlich dazu verpflichtet, dem Neugeborenen Hilfe zu leisten. Das gilt in den USA wie auch hierzulande:
Wer also die Atemnot eines Neugeborenen erkennt und bewusst nicht handelt, macht sich strafbar.
Stirbt das Kind, kann je nach Rolle und Vorsatz der Strafbestand der Kindstötung (nur bei der Mutter im Geburts-Einfluss), der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung durch Unterlassen, der Verletzung der Fürsorgepflicht oder subsidiär der Unterlassung der Nothilfe erfüllt sein.
Für Drittanwesende – also beispielsweise eine Birth Keeperin – kann willentliche Falschberatung («Das ist normal, nicht beatmen!») bei Todesfolge als Beihilfe zur vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung oder als Anstiftung zur Unterlassung der Nothilfe gewertet werden. Wird sie dafür bezahlt, kommt zusätzlich Betrug in Betracht, wenn sie die Gefahr bewusst verschwieg oder leugnete.
Das schrieb Norris-Clark über die freie Geburt ihres achten Kindes, das «schlaff, regungslos und grauweiss» zur Welt kam – und das sie aus Respekt seiner «souveränen Fleischwerdung» nicht beatmete.
Auch Saldaya unternahm nichts, als ihr zweites Baby mit Zeichen akuter Atemnot zur Welt kam – das Video davon umschrieb Prof. Michelle Telfer, Associate Professor für Geburtshilfe in Yale, mit den Worten: «Es ist, als würde ein Elternteil am Beckenrand sitzen, während sein Kind still ertrinkt – und er tut nichts.»
Beide Kinder überlebten. Wäre ihr Sohn aber gestorben, hätte Saldaya den Behörden erzählt, dass er bereits still geboren worden sei. «Ich würde auf jeden Fall lügen», sagte sie 2023 ihren Schülerinnen.
Am 25. August 2025 teilt sie auf ihrem FBS-Instagram-Account «das Schwierigste, was sie je teilen musste»:
Saldaya lebt, was sie lehrt.
Und sie verarbeite ihre «Erfahrung auf wunderbare Weise», erzählt Norris-Clark der Mutter eines Sternenkindes während eines Geburtstrauma-Coachings: Saldaya sei «so dankbar, dass sie sich für eine freie Geburt entschieden hat – besonders für ihren Sohn.»
Die FBS-Gründerin betont immer wieder:
Sie meint damit das Recht der Mutter auf eine selbstbestimmte Geburt, nicht das Recht auf eine sichere Geburt. Für sie ist Geburt eine Art sakrales Geschehen, «eine transformative Erfahrung» und kein medizinischer Zustand, aus dem man Profit schlagen kann.
Nur ist ihr eigenes Geburtsmodell ebenso einträglich. Ihre Free Birth Society ist als profitabel organisiertes Unternehmen organisiert, das Frauen absolute Autonomie verkauft. Ein Produkt, das innerhalb eines Rechtsstaates nicht uneingeschränkt existiert, weil jedes Grundrecht dort endet, wo es das eines anderen verletzt. In diesem Fall das Recht des Neugeborenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die mütterliche Selbstbestimmung hört also da auf, wo das Kindeswohl gefährdet wird. Das Kind ist Subjekt, Saldayas Ideologie aber macht es zum Objekt mütterlicher Selbstverwirklichung, dessen Verlust als «natürlicher Prozess» bagatellisiert wird, anstatt als das anerkannt zu werden, was es in mindestens 50 Prozent der weltweiten Stillgeburten ist: ein vermeidbares Versagen – der Moment, in dem medizinische Intervention Leben hätte retten können.
Alles Weitere erfährst du hier.
Ich bitte alle im selben Geiste zu kommentieren, in dem auch dieser Artikel geschrieben wurde: mit Respekt. Es geht hier um echte Geburtserfahrungen von echten Frauen. Und um den Versuch, ein gesellschaftliches Phänomen zu verstehen, das ich in seiner Radikalität als gefährlich erachte. Es geht um das Zerbrechlichste überhaupt: das Leben. Toxische Geringschätzung in jeglicher Form ist unerwünscht.
