Dichter Johann Wolfgang von Goethe und sein Begleiter Herzog Carl August staunten nicht schlecht, als sie am 17. Oktober 1779 vor dem «… sehr merckwürdig und sehr dicken…» Michael, auch Michel genannt, Schüppach standen. Den vielgerühmten Wunderarzt hatten sie sich doch etwas anders vorgestellt. Dazu kam, dass der Mann an jenem Tag schlechte Laune hatte. Er litt unter Verdauungsproblemen und Marie Flückiger, seine Frau, war abwesend. Sie war es auch, die dem «Bergdoktor» zur Hand ging und als Übersetzerin fungierte, wenn Französisch sprechende Kranke kamen.
Michael Schüppach wurde 1707 als Ältester von sieben Kindern in Biglen (BE) geboren. Er verliess die Schule mit 16 Jahren und begann eine Lehre als Schärer (auch Scherer genannt). Dieser Beruf beinhaltete nebst der Haarpflege auch eine medizinische Lehre zum Wundarzt und Chirurgen. Der junge Michael stellte sich im Umgang mit den Patientinnen und Patienten so geschickt an, dass er bereits mit 20 Jahren die Schärstube von Hans Fuhrer in Langnau im Emmental übernehmen konnte.
Schüppachs Interesse ging aber weit über das bisher Gelernte hinaus. Er war ein guter Beobachter. Goethe beschreibt ihn, wie er mit seinen «…hellen, scharfen Augen…» seine Besucher musterte und so schon fast in deren Innerstes hineingesehen hatte. Als Anhänger der bereits damals ausserhalb des Emmentals angezweifelten medizinischen Theorie der Säftelehre hatte er aber durchaus Erfolg mit seinen Diagnosen. Durch das Betrachten von Urin und dem Beobachten seiner Patientinnen und Patienten gelang ihm manch richtige Therapie.
Der Emmentaler blieb Zeit seines Lebens ein Lernender. Er kannte sich in der Naturheilkunde ebenso aus, wie in der Chemie. Seine Tinkturen und Heilsäfte mischte er meist selbst und gab ihnen teilweise seltsame Namen wie, «Blüemliherz», «Freudenöl» oder «liebreicher Himmelstau». Michael Schüppach führte auch akribisch Tagebuch über seine Patientinnen und Patienten, deren Leiden und seine Behandlungen sowie über die verschriebenen Medikamente.
Goethe war nicht wirklich krank, als er auf seiner Schweizer Reise Halt in Langnau machte. Er war einfach neugierig. So verschlug es auch andere Interessierte und scheinbar Kranke ins Emmental. Zu Schüppachs illustrer Gästeschar gehörten auch Johann Caspar Lavater, Pfarrer, Philosoph und (heute umstrittener) Physiognomiker, der Reiseschriftsteller César de Saussure, der Mathematiker und Physiker Samuel Rudolf Jeanneret aus Grandson oder Rosine König von Wyttenbach, deren Zuckerkrankheit Michael Schüppach jedoch nicht zu heilen vermochte.
Doch nicht alle bewunderten den Emmentaler Wunderarzt. Einer seiner grössten Kritiker war Albrecht von Haller (1708–1777), bekannter Arzt und Naturforscher aus Bern. Ohne jemals bei Schüppach gewesen zu sein, bezeichnete er den Langnauer Mediziner als «Marktschreier» und stützte seine Ansichten vor allem auf die Berichte von Jakob Köchlin. Dieser, ebenfalls Mediziner, stammte aus dem Elsass und hatte Schüppach, den «Bauern aus Langnau», 1775 besucht.
All diese Kritiken schadeten der Popularität des Bergdoktors aber in keiner Weise. Zu Spitzenzeiten empfing er zwischen 80 und 90 Patientinnen und Patienten in seiner kleinen Praxis. Oft blieben seine Gäste über Nacht oder gleich mehrere Tage. Schüppach kaufte 1733 den Gasthof Bären in Langnau, um dort zu praktizieren und gleichzeitig eine Unterkunft anbieten zu können. 1739 entstand sein Kurhaus, nebst Wohnhaus und Laboratorium. Schüppach hatte sich ein kleines Imperium geschaffen und so nebenbei den Tourismus in der Region Langnau initiiert.
Was Michael Schüppach vielleicht an medizinischer Ausbildung fehlte, machte er mit seiner Menschenkenntnis wett. Sein psychologisches Gespür für das Gegenüber war sehr ausgeprägt. Ausgeprägt war auch seine Offenheit gegenüber neuen Behandlungsmethoden. So hatte sich der Arzt beispielsweise eine Elektrisierungsmaschine angeschafft. Dieses für die damalige Zeit revolutionäre Gerät sollte Menschen, die angeblich vom Teufel besessen waren, mit gezielten Stromstössen heilen. Leider ist nicht überliefert, wie erfolgreich er damit war.
Trotz seiner zahlreichen medizinischen Erfolge war der Emmentaler Wunderdoktor ein Kind seiner Zeit und, wie ein Grossteil seiner einheimischen Kundschaft, dem Aberglauben sehr verbunden. In seiner Praxis in Langnau befanden sich unter anderem entsprechende Arzneien wie pulverisierte Edelsteine, Spinnen, Kröten oder sogar das Horn eines «Einhorns» (Narwal-Zahn).
Das Geschäft lief gut. Das beweisen die Einträge in Schüppachs Ordinationsbüchern. Die Patientinnen und Patienten kamen teilweise von weit her. Sie ermöglichten der Familie des Arztes ein komfortables Leben und bescherten Langnau ein geradezu internationales Flair. Seine Erfolge wurden aber von einigen seiner Berufskollegen argwöhnisch beäugt. Michael Schüppach behandelte und operierte Menschen, ohne dass er eine Meisterprüfung abgelegt hätte. Er bildete ebenso Lehrlinge aus und half mit seinen Untersuchungen auch im Mordfall Hans Heimberger, der 1754 in einer kleinen Scheune in Trub erschlagen aufgefunden wurde.
Erst nachdem er zweimal gemahnt worden war, holte er 1746 die Meisterprüfung an der Bernischen Chirurgischen Societät doch noch nach und durfte sich fortan «Medicinae et Chirurgiae Practico» nennen.
Michael Schüppach scheint die medizinischen Ratschläge, die er seiner Kundschaft gab, selber nicht gross beachtet zu haben. So zeigen zeitgenössische Bilder und die Beschreibungen seiner Gäste einen eher fettleibigen und behäbigen Menschen, der die Kranken meist sitzend in Empfang nahm. Im Alter von 74 Jahren machte ein Hirnschlag seinem Leben ein Ende und er geriet in der Folge für lange Zeit in Vergessenheit.