Der Fluch der Körpersäfte – was ein Lausanner Arzt von Onanie hielt
Samuel Auguste Tissot gehörte im 18. Jahrhundert zu den bekanntesten Ärzten auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Seine Prominenz verdankte der Lausanner Mediziner in erster Linie einer Schrift gegen die männliche Masturbation. Tissot war der Ansicht, dass Selbstbefriedigung den Mann erschöpfe und letztlich zu Sterilität führe. Auch andere Krankheiten brachte er mit der Selbstbefriedigung in Verbindung.
Sein Werk «Von der Onanie» erschien 1758 in lateinischer Sprache und zwei Jahre später auch auf Französisch. Die Arbeit des Arztes verbreitete sich rasch in ganz Europa und wurde bereits zu Lebzeiten des Autors rund 60 Mal überarbeitet und in verschiedene Sprachen übersetzt. Das Thema interessierte nicht nur medizinische Fachkreise.
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Argumente aus der Antike
Tissots Ansichten waren allerdings abenteuerlich und stützten sich hauptsächlich auf die medizinische Theorie der Körpersäfte. Diese stammt aus der Antike und besagt, dass die menschlichen Säfte in einem Gleichgewicht stehen müssen. Wer zu viel Saft abgibt, schwächt seinen Körper und wird letztlich krank. Männliche Selbstbefriedigung war für den Arzt aus Lausanne eine Verschwendung von Körpersaft.
Samuel Auguste Tissot untermauerte seine Theorie mit der alten anatomischen Auffassung, dass die Samenflüssigkeit ursprünglich aus dem Gehirn stamme und durch die Wirbelsäule in den Penis gelange. Wer also masturbiert, so der Arzt, «opfere» einen Teil seiner Hirnflüssigkeit. Die Folgen: unzählige Gebrechen und Krankheiten, eine Schädigung des Nervensystems sowie die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Denkvermögens.
Die Publikation von Samuel Auguste Tissot war der Start einer weltweiten Anti-Masturbations-Bewegung, welche die Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert beeinflusste. Der Mediziner aus der Romandie hatte den moralischen Vorstellungen zahlreicher Zeitgenossen einen wissenschaftlichen Anstrich verpasst und stützte damit die vorherrschende bürgerliche Sexualmoral. Diese war zwar nicht gegen Sex per se, stellte jedoch die Vernunft an oberste Stelle. Triebbefriedigung und Lustempfinden hatten in dieser Vorstellung keinen Platz.
Erst in den 1960er-Jahren, als sich die Jugend gegen die vorherrschenden bürgerlichen Werte aufzulehnen begann, wurde Selbstbefriedigung endgültig gesellschaftlich akzeptiert. Ironischerweise gehen Mediziner heute davon aus, dass regelmässiges Masturbieren bei Männern das Risiko herabsetze, an Prostatakrebs zu erkranken.
1830 erschien das «Livre sans titre». Es illustriert drastisch die tödlichen Gefahren des Masturbierens:
bis 11. Oktober 2020
Die Ausstellung ist in sieben Themengebiete unterteilt und mutet zu keinem Zeitpunkt voyeuristisch an. Es gibt eine breite Palette an Alltagsobjekten zu bestaunen: von einem Bett mit erotischen Motiven über eine Backform mit frechen Szenen bis hin zu Hochzeitskleidern und -schmuck, Liebeserklärungen, Geschenken und bekannten Lebensweisheiten sowie gerichtlichen Aufzeichnungen.
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