Mit seinem Werk gegen die Onanie gab der Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot der bürgerlichen Sexualmoral ein wissenschaftliches Kleid. Illustration: Marco Heer
Selbstbefriedigung macht unfruchtbar und krank. Diese These eines Lausanner Arztes verbreitet sich im 18. Jahrhundert rasend schnell und hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert.
21.06.2020, 18:1322.06.2020, 09:33
Andrej Abplanalp / Schweizerisches Nationalmuseum
Samuel Auguste Tissot gehörte im 18. Jahrhundert zu den bekanntesten Ärzten auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Seine Prominenz verdankte der Lausanner Mediziner in erster Linie einer Schrift gegen die männliche Masturbation. Tissot war der Ansicht, dass Selbstbefriedigung den Mann erschöpfe und letztlich zu Sterilität führe. Auch andere Krankheiten brachte er mit der Selbstbefriedigung in Verbindung.
Sein Werk «Von der Onanie» erschien 1758 in lateinischer Sprache und zwei Jahre später auch auf Französisch. Die Arbeit des Arztes verbreitete sich rasch in ganz Europa und wurde bereits zu Lebzeiten des Autors rund 60 Mal überarbeitet und in verschiedene Sprachen übersetzt. Das Thema interessierte nicht nur medizinische Fachkreise.
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Tissots Ansichten waren allerdings abenteuerlich und stützten sich hauptsächlich auf die medizinische Theorie der Körpersäfte. Diese stammt aus der Antike und besagt, dass die menschlichen Säfte in einem Gleichgewicht stehen müssen. Wer zu viel Saft abgibt, schwächt seinen Körper und wird letztlich krank. Männliche Selbstbefriedigung war für den Arzt aus Lausanne eine Verschwendung von Körpersaft.
Samuel Auguste Tissot untermauerte seine Theorie mit der alten anatomischen Auffassung, dass die Samenflüssigkeit ursprünglich aus dem Gehirn stamme und durch die Wirbelsäule in den Penis gelange. Wer also masturbiert, so der Arzt, «opfere» einen Teil seiner Hirnflüssigkeit. Die Folgen: unzählige Gebrechen und Krankheiten, eine Schädigung des Nervensystems sowie die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Denkvermögens.
Porträt von Samuel Auguste Tissot, kurz nachdem er ehrenhalber zum Professor der Medizin an der Akademie Lausanne ernannt worden war.Bild: Université de Lausanne/Claude Bornand
Die Publikation von Samuel Auguste Tissot war der Start einer weltweiten Anti-Masturbations-Bewegung, welche die Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert beeinflusste. Der Mediziner aus der Romandie hatte den moralischen Vorstellungen zahlreicher Zeitgenossen einen wissenschaftlichen Anstrich verpasst und stützte damit die vorherrschende bürgerliche Sexualmoral. Diese war zwar nicht gegen Sex per se, stellte jedoch die Vernunft an oberste Stelle. Triebbefriedigung und Lustempfinden hatten in dieser Vorstellung keinen Platz.
Szene aus Albert Molls Handbuch der Sexualwissenschaften, 1921.Bild: Wikimedia
Erst in den 1960er-Jahren, als sich die Jugend gegen die vorherrschenden bürgerlichen Werte aufzulehnen begann, wurde Selbstbefriedigung endgültig gesellschaftlich akzeptiert. Ironischerweise gehen Mediziner heute davon aus, dass regelmässiges Masturbieren bei Männern das Risiko herabsetze, an Prostatakrebs zu erkranken.
1830 erschien das «Livre sans titre». Es illustriert drastisch die tödlichen Gefahren des Masturbierens:
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Das Buch ohne Titel (Le Livre Sans Titre) wurde 1830 in Paris herausgegeben und erzählt von den fatalen Konsequenzen der Masturbation für einen 17-jährigen Jungen. Denn, wie das Buch selbst behauptet, «diese verderbliche Angewohnheit lässt mehr junge Männer sterben als jede andere Krankheit der Welt.» Geschrieben wurde es für junge Leute sowie Familienväter und Mütter. bild: dittrick Liebe und Sexualität im 18. Jahrhundert
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